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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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als lächerlicher Farbenkleckser, als Hungerleider
… Ich weiß, ich hätt das nicht sagen sollen, ich hätt ihm das Studium gar nicht erlauben sollen. Weil dann, auf der Akademie, ist er vollends in falsche Gesellschaft geraten   …»
    «Meinen Sie da wen Speziellen?», wagt der Lemming einzuwerfen. Hörtnagl stutzt, dreht sich ruckartig um und fixiert ihn mit funkelnden Augen.
    «Nein», sagt er barsch. «Niemanden mein ich. Niemand Speziellen, sondern ganz allgemein: Saufen, feiern, Blödsinn treiben, das war doch schon immer die Devise bei diesen   … diesen so genannten Kunstmenschen   …»
    Hörtnagl legt eine Pause ein und wendet sich wieder dem Fenster zu.
    «Natürlich hab ich versucht, bei den Herren Professoren ein bisserl Einfluss zu nehmen, soweit das halt möglich war. Hier eine Spende, da ein Ankauf, dort eine kleinere Zuwendung   … Aber beim Florian selber war Hopfen und Malz verloren, der hat immer grad das Gegenteil von dem gemacht, was ich für ihn wollte. Ich hab ja gehofft, dass er eines Tages zur Vernunft kommen wird, aber leider   … Was er gesät hat, der Bub, das hat er jetzt auch geerntet: Wenn einer stockbesoffen auf einen Baukran klettert, dann muss er damit rechnen, dass er nicht mehr heil herunterkommt   …»
    «Mit Verlaub, Herr Kommerzialrat», unterbricht jetzt der Lemming erneut, «aber der Florian war nicht besoffen.»
    «Ach! War er nicht?»
    «Nein   … Und um ehrlich zu sein   … Es war auch kein Unfall   …»
    Wieder wendet sich Hörtnagl um, aber langsam und lauernd diesmal, sein Blick eine einzige Drohung. Er hebt den Arm und deutet auf eine Zeitung, die vor dem Lemming auf der gläsernen Platte des Couchtisches liegt.
    «Schlagen Sie auf   …»
    «Ich hab heut schon   …»
    «Schlagen Sie auf!»
    Der Lemming tut es. Im Chronikteil der
Reinen Wahrheit
findet er die Meldung, die er schon am Vormittag gelesen hat:
     
    TÖDLICHER UNFALL IM ERSTEN BEZIRK
    Die technische Inspektion eines Drehkrans auf dem Wiener Franziskanerplatz fand gestern Abend ein tragisches Ende. Aufgrund eines Schwächeanfalls verlor Florian H. (21) den Halt und stürzte zwanzig Meter in die Tiefe. Er erlag noch am Unfallort seinen Verletzungen. Ein weiterer Inspekteur, der 4 1-jährige Leopold W., erlitt in Folge einen Schock. W. konnte unversehrt vom Kran geborgen werden.
     
    «Da steht es doch», meint Jochen Hörtnagl jetzt, und seine Stimme klingt ruhig dabei, verdächtig ruhig. «Da haben Sie’s, Herr Wallisch, schwarz auf weiß, die reine, ungeschminkte Wahrheit   …»
    Wie viel mag dieser Zeitungsbericht gekostet haben?, überlegt der Lemming. Wie viel hat Hörtnagl den Redakteuren wohl gezahlt, damit sie seine ganz persönliche Version der Wahrheit in ihr Schundblatt drucken? Vielleicht sitzt ja auch einer seiner Freunde – oder gar er selbst – im Vorstand der
Reinen
und achtet auf die Ausgewogenheit der täglichen Berichterstattung. Eine Spur geschickt verbrämte Lüge hier, eine Prise ungeschminkte Wahrheit da – so sieht das tägliche Lesefutter der Österreicher aus. Mit einem Wort: Mischkost, stilvoll genossen bei einer Melange   …
    Während der Lemming verdrossen in die Zeitung stiert, tritt Jochen Hörtnagl hinter ihn. Legt ihm sanft die Hände auf die Schultern und raunt ihm ins Ohr: «Nur eines würde mich noch interessieren, Herr Wallisch: nämlich, was
Sie
da oben zu suchen hatten   …»
    Gut. In Ordnung: Der Alte will es ja nicht anders. Der Lemming erhebt sich nun auch, entzieht sich unwirsch dem Griff dieses Mannes, der anscheinend immer noch glaubt, die ganze Welt sei sein Privatspielplatz.
    «Das werd ich Ihnen sagen, Herr Kommerzialrat. Obwohl Sie es wahrscheinlich eh schon wissen. Der Josef Pokorny hätte gestern auftreten sollen, auf einer Vernissage, und zwar gemeinsam mit Ihrem Sohn. Es war zwar unwahrscheinlich, dass er wirklich kommen wird, aber ich bin trotzdem hingegangen. Warum? Sie werden lachen: weil ich gar nicht mit dem Pokorny sprechen wollte, sondern mit dem Florian!»
    Jochen Hörtnagl lacht nicht. Im Gegenteil: Seine Augen verengen sich. Sein Mund verengt sich. Was sich sonst noch alles verengt, bleibt im Verborgenen – glücklicherweise.
    «Was   … zum Teufel   … wollten Sie von meinem Sohn?»
    «Was ich   … Sie fragen mich allen Ernstes, was ich von Ihrem Sohn wollte?»
    Jetzt ist es wirklich so weit mit dem Lemming: Pietät und Rücksichtnahme sind vergessen; der Damm der Zurückhaltung bricht. Die Spannung der

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