Das Schweigen des Lemming
Luxus und Kitsch ist alles zu haben, und wenn erst die Weihnachtszeit anbricht, verwandelt sich die gut besuchte Einkaufsmeile ineinen beispiellosen Moloch des Konsums. Zähflüssig wälzen sich dann die Massen von Laden zu Laden; man steigt einander auf die Füße, man erdrückt einander, förmlich erdrückt von der Sorge um die letzten, noch fehlenden Geschenke. Daher, denkt der Lemming, rührt wahrscheinlich der Begriff
besorgen
…
Zum Glück lässt der Advent noch auf sich warten, und so schlendern die beiden gemächlich dahin, Arm in Arm und weitgehend ungehindert.
«Heißt das», meint Klara nach einer Weile, «dass diese Geschichte jetzt endlich erledigt ist?»
«Erledigt, ja … So hat das auch der Hörtnagl ausgedrückt. Erledigt, aber nicht geklärt …»
«Und du hast den Briefumschlag einfach so liegen gelassen?»
«Ja …»
«Nicht einmal hineingeschaut?»
«Lieber gut schlafen als gut essen … Das hat schon mein Großvater immer gesagt.»
Eine Zeit lang geht der Lemming schweigend neben Klara her, dann bleibt er ruckartig stehen.
«Weißt du, Klara … Vielleicht tät er ja noch leben, der Bub, wenn ich nicht in die Scheißgalerie gegangen wär …»
«Geh, hör mir auf! Du glaubst doch nicht wirklich, dass du ihn in den Tod getrieben hast!»
Der Lemming zuckt mit den Achseln.
«Ich bin mir nicht sicher … Und ich hätt nicht übel Lust, die ganze Sache weiterzuverfolgen … Ein toter Mann, ein totes Tier, gebrochene Hände und ausgeschlagene Zähne, Zerstörung, Hass und Feindschaft … Und warum das alles?»
«Frag mich was Leichteres, ich weiß es nicht … Ich will’s auch gar nicht wissen, um ehrlich zu sein. Und du auch nicht, Poldi. Du wirst jetzt nämlich woanders gebraucht …»
Klara zieht den Lemming mit sich und steuert auf ein hell erleuchtetes Portal zu: das berühmte Kaufhaus
Strawinsky
.An Seidentüchern, Negligés und Socken vorbei fahren sie mit der Rolltreppe in den zweiten Stock, Klara sichtlich unternehmungslustig, der Lemming schweren Herzens. Bald schon stehen sie vor einem Meer aus buntem, gestreiftem, geblümtem Textil, aus Röcken und Blusen, Kostümen und Kleidern, kurz gesagt: in der Damenmodenabteilung.
«Ist das dein Ernst? Ich soll da … Ich soll mit dir …»
«Ja», sagt Klara ruhig und entschlossen. Aufmerksam studiert sie die Wegweiser, die über all den Rüschen, Borten und Bordüren an der Decke hängen, bis sie endlich entdeckt, was sie sucht.
«Entschuldige, Klara … Aber … Was willst du … Was willst du bei den … Übergrößen?»
Ein langer Blick in die Augen des Lemming, ein nicht zu ergründender, etwas belustigter Blick, dann die Antwort.
«Meine Brüste sind gewachsen», sagt Klara und lächelt. «Ist dir das nicht aufgefallen?»
«Deine Brüste.»
«Ja, mein Busen, Poldi … Und da hab ich mir gedacht, kauf dir ein paar bequeme Sachen. Schlabberlook, was Komfortables halt …»
«Und ich soll dich dabei … beraten.»
«Genau. Du bist ja schließlich auch beteiligt an den beiden … Hin und wieder …»
Jetzt muss auch der Lemming grinsen.
«Und das ist alles?»
«Ist dir das nicht genug?»
Und wieder dieser unergründliche Blick, dieses nach innen gerichtete Schmunzeln: die Miene einer gut gelaunten Frau, deren Mann nicht bemerkt, dass sie ein neues Parfüm, ein neues Make-up, eine neue Frisur trägt …
«Verzeih, Klara, aber ich hab das Gefühl … Ist mir vielleicht irgendwas entgangen?»
«Schon möglich …»
Sie wendet sich ab, beginnt zu gustieren, nimmt schließlich einen Kleiderbügel von der Stange und hält sich das daran befestigte Hemd vor die Brust: ein gigantisches Exemplar, dessen wallende Falten ihr bis zu den Knien reichen.
«Wie wär’s damit? Was meinst du?»
«Wunderbar, schaut sehr kommod aus … Da haben zwei darin Platz …»
Da haben zwei darin Platz …
Und plötzlich klingen ihm die Worte in den Ohren nach, fast so, als hätte sie ein anderer ausgesprochen. Fast so, als hätte sich ihre Bedeutung auf magische Weise verselbständigt, und das, obwohl sie doch aus seinem eigenen Mund … Obwohl er sie ja selbst …
«Du … Du … Du willst doch nicht etwa sagen, dass du …»
Klara neigt versonnen den Kopf zur Seite.
Klara sieht den Lemming an.
Und Klara nickt.
Der menschliche Körper ist im Grunde viel einfacher gestrickt, als das die Ärzte ihren Patienten immer weismachen wollen. Das
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