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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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Schatz. Und nicht vergessen: Sie haben was gut bei mir   …»
    Der Lemming wird es sicher nicht vergessen. Ob sich Stropek seiner Schuld zu gegebener Zeit entsinnen wird, bleibt allerdings dahingestellt.
    «Was war denn? Ist was passiert?», fragt Klara mit besorgter Miene, nachdem der Lemming den richtigen Knopf gefunden und das Handy abgeschaltet hat.
    «Passiert? Nein, es ist nix passiert   … Der feine Herr Hörtnagl hat nur grad dafür gesorgt, dass ich keine Zeit mehr zum Nachdenken hab   …»
    «Geh, Poldi   … So ein Jammer   …»
    Ein Jammer, allerdings. Aber nicht nur ein Jammer. Da ist auf einmal ein vages Gefühl, das den Lemming beunruhigt, nein, mehr noch: das ihn zutiefst verstört. Eine Art Déjà-vu, ein unergründlicher Nachhall des eben geführten Gesprächs, flüchtig und scheinbar belanglos wie der Flügelschlag eines tropischen Schmetterlings   …

22
    Die Abendluft ist drückend feucht, fast unerträglich schwül, und wirklich, das längst nicht mehr Erhoffte ist geschehen: Eine Wolkenwand ist vom Nordwesten her aufgezogen; tief und gelblich grau schiebt sie sich über die Gatter und Gehege des Zoos. Es ist zehn vor sechs, als die ersten Blitze über den Himmel zucken und der Lemming das Wachhaus betritt.
    Den ganzen Weg über hat er sinniert und gebrütet, hat sich das Hirn zermartert, aber der Grund für die plötzliche Irritation, die das Telefonat mit Stropek bei ihm ausgelöst hat, ist ihm verborgen geblieben. Das Ahnen verweigert sich standhaft dem Wissen, vielleicht, weil die Gewissheit stets der Tod der Ahnung ist, vielleicht aber auch, weil die Verbindung zwischen Bauch und Kopf beim Homo sapiens senkrecht verläuft und daher schwer zu überwinden ist. Also gibt der Lemming seine Grübeleien nun auf, um sich anderen, verheißungsvolleren Gedanken zuzuwenden.
    Vornamen zum Beispiel. Etwas Einfaches, Bodenständiges sollte es sein, vielleicht sogar ein wenig antiquiert. Etwas, das auch zum Nachnamen passt – aber zu welchem? Breitner oder Wallisch? Am besten zu beiden, entscheidet der Lemming. Berta vielleicht? Oder Willi? Er setzt sich an den schlichten Schreibtisch, auf dem zwei Überwachungsmonitore flimmern, und betrachtet gedankenverloren die Bildschirme, auf denen die Tore zum Arbeits- und Wirtschaftsbereich des Zoos zu erkennen sind. Er, der Lemming, sieht etwas vollkommen anderes. Er sieht hellgraue Schlieren auf schwarzem Grund, einen pulsierenden Wirbel, ähnlich den Satellitenbildern des Wetterberichts. Er sieht eine Schnecke, ein Ohr, eine Muschel, kurz: einen winzigen, menschlichen Körper im Ultraschall   …
    Eine Minute vor sechs. Die Tiere sind unruhig, durch das halb geöffnete Fenster kann man ihr Scharren und Stampfen, ihr Schnauben und Kreischen vernehmen. Obwohl dieSonne erst in knapp zwei Stunden untergeht, zeigt sich der Himmel über Schönbrunn bedrohlich und düster. Gerade will der Lemming zum Schalter der Schreibtischlampe greifen, als er erschrocken zusammenfährt: Ein Blitz zuckt durch die Dämmerung; für den Bruchteil einer Sekunde taucht er den kleinen Raum in hartes, gleißendes Licht.
    «Servus, Wallisch   …»
    Die Tür ist aufgegangen. In ihrem Rahmen steht eine Gestalt, eine hagere, leicht gebeugte Silhouette. Sie trägt einen Koffer in der Hand, ein unförmiges, asymmetrisches Ding, so unförmig und asymmetrisch wie ein handelsübliches Akkordeon   …
    Der Lemming springt hoch, sein Sessel kippt um, schlägt hart auf den Boden. Ein scharfer Peitschenknall, dann der markerschütternde Bass des Donners, der die Fenster, die Mauern, die Welt erzittern lässt. Ein Ringen nach Atem, ein Ringen nach Worten, aber er findet keine, der Lemming. Er findet kein einziges. Der Hagere tut es statt seiner.
    «Scheißwetter», meint Pokorny, dreht sich um und zieht energisch die Tür zu. «Obwohl wir so lang drauf gewartet haben   … Na, wenigstens werden sich die Bauern und die Pensionisten freuen   …»
    Und wie zur Bestätigung reißt jetzt der Himmel die Schleusen auf; der Regen bricht los. Es ist ein Wolkenbruch, wie er im Buche steht, eine wütende Sturzflut, die da auf das Dach trommelt, gegen die Scheiben schlägt. Pokorny ist kaum zu verstehen, als er sich wieder an den Lemming wendet.
    «Sag, Wallisch, was machst du eigentlich da?»
    «Was   … Ich? Du fragst mich, was
ich
hier   …?»
    «Ja. Soweit ich mich erinnern kann, bin’s
ich
, den unser heiliger Stropek für heut Abend eingeteilt hat. Du musst ja nicht gleich jeden

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