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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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entdeckt und gekostet zu werden. Er hütet sie mit der Beharrlichkeit einer ewigen Kindergärtnerin, die selbst dann noch einsam und verträumt im Sandkasten sitzt und Sandburgen baut, wenn ihre früheren Schützlinge schon längst zu Immobilienhändlern gereift sind.
    Beharrlich, ja, das ist er, wenn nicht gar starrsinnig, störrisch und dickköpfig, denkt der Lemming: Jetzt erst sticht ihm nämlich die dunkle Kontur ins Auge, eine Ecke des schwarzen Akkordeonkoffers, der – halb verdeckt von einer künstlichenEisscholle – neben den Füßen Pokornys liegt. Pen Gwyn will es offenbar wirklich wissen. Statt den Koffer – wie am Telefon gefordert – am Eingang abzustellen, will er den Verräter dazu zwingen, ihm gegenüberzutreten, sich mit ihm zu messen, Auge in Auge und Wort gegen Wort. Erwartet er eine Beichte? Denkt er allen Ernstes, dass die Bestie mit einem Mal Reue zeigen wird, nur weil sie der Pinguin ins Gebet nimmt? Dass sie sich für ihr abscheuliches Doppelspiel, das nicht zuletzt Florian Hörtnagl das Leben gekostet hat, entschuldigen wird? Oder hat es Pokorny, der alte Haudegen, wirklich auf einen Kampf angelegt?
    Es ist zehn Uhr vorbei. Der Lemming hebt die Hand, um an die Glaswand zu klopfen, dem hageren, fröstelnden Mann auf der anderen Seite ein Zeichen zu geben. Ich bin hier, will er Pokorny bedeuten, ich lass dich nicht im Stich. Sobald der Feind das Gehege betritt, komme ich dir zu Hilfe. Wir werden ihn in die Zange nehmen, da kann er machen, was er will, da nutzen ihm seine ganzen Stricke und Fußangeln nichts, da kann er mit Säbeln und Kanonen drohen, ganz egal. Ich komme hinüber und hau ihm von hinten auf seinen hässlichen Schädel, so fest, dass   …
    Kein Klopfen ans Glas.
    Es ist der Schädel des Lemming, der in diesem Moment explodiert.
     
    Hat er das Bewusstsein verloren? Für ein paar Sekunden vielleicht. Jedenfalls lange genug, um sich auf dem Bauch liegend wiederzufinden, die Arme brutal auf den Rücken gedreht. Er spürt die Last des Mannes, der auf ihm kniet, vernimmt das hässliche, schlürfende Geräusch von Klebeband, das von der Rolle gezogen wird. Seine Beine sind bereits gefesselt: Die Unterschenkel nach hinten geknickt, die Fersen knapp unterhalb des Gesäßes, so hat sie der Angreifer zusammengebunden; nun widmet er sich den Handgelenken, umwickelt siefünf-, sechsmal mit dem breiten, festen Band. Der Kopf des Lemming brummt. Dennoch hebt er ihn jetzt ein wenig an und blinzelt benommen durch die Scheibe, so als könne er Pokorny, der nach wie vor auf der anderen Seite steht, allein mit der Kraft seiner Blicke zu Hilfe rufen.
    «Er kann Sie nicht sehen, Herr Wallisch   …»
    Es ist nicht die Stimme aus dem Telefon, diese seltsam verhaltene, raunende Stimme, die an die Ohren des Lemming dringt. Es ist auch nicht der Bariton Arno Murauers. Nein, der Bass ist es, das tiefe, sonore Organ Bernhard Putzers. Und wie zur Bestätigung wird der Lemming jetzt auf den Rücken gewälzt, sodass er den großen, breiten Schatten des Bären über sich sieht.
    «Sie also   …»
    «Ja. Wer sonst?»
    Putzer beugt sich zum Lemming hinunter, packt ihn am Kragen und zieht ihn unsanft auf die Knie. Ein neuer Schmerz, der sich zu jenen im Kopf und in den Armen hinzugesellt, ein Ziehen und Stechen in den Knie- und Fußgelenken, die nun – gegen den harten Boden gepresst – das gesamte Gewicht seines Körpers tragen.
    «Au   … Scheiße   …», ächzt der Lemming.
    Für einen flüchtigen Moment huscht ein Ausdruck von Mitgefühl über Putzers breites Gesicht. Er greift nach den Schultern des Lemming, als wollte er ihn in eine komfortablere Lage bringen, zieht aber gleich darauf die Arme zurück und verschränkt sie trotzig vor der Brust.
    «Schmerzen», sagt er barsch, «sind die Lektion der ewigen Idioten. Sie wollten’s ja nicht anders: Man soll sich halt nicht in die Geschäfte anderer Leute einmischen   …»
    «Geschäfte?», stöhnt der Lemming. «Geschäfte nennen Sie das?»
    Putzer antwortet nicht. Gelangweilt mustert er seinen Gefangenen, verdreht dann die Augen und seufzt.
    «Noch so ein selbstgefälliger Moralapostel   …», meint er kopfschüttelnd. «Wie unser Freund da drüben, unser hehrer Bewahrer der Künste, unser lächerlicher Weltverbesserer und Schelmenkönig   … Sie gehören also auch zum Klub der greisen Versager. Eh klar: Gleich und Gleich gesellt sich gern, vor allem, wenn man alt und älter wird und immer noch ein armer Schlucker ist. Da muss man sich

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