Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
Vom Netzwerk:
sollte ich auffliegen   … Es ist einfach wunderbar: Wie man’s auch dreht und wendet, ihr Moralisten seid und bleibt die ewigen Verlierer   …»
    Wie ein Verlierer sieht inzwischen auch Pokorny aus. Ein Verlierer ohne greifbaren Gegner allerdings: Er ist in die Knie gegangen, als wollte er der Kälte weniger Angriffsfläche bieten; klein und verloren hockt er nun zwischen den reglosen Pinguinen und reibt sich – zunehmend kraftlos – die Arme.
    Wie lange, denkt der Lemming, wie lange wirst du’s da drinnen noch durchhalten, du alter, störrischer Esel? Vielleicht hat Putzer ja Recht, vielleicht ist der Stolz der Gerechten nicht mehr als ein selbst verliehener Orden, ein Trostpreis, ein kümmerlicher Ersatz für entgangene Triumphe und Karrieren   … Also lass endlich gut sein, Pokorny, sag einfach, es war nichts, geh und wärm dich auf, nein, besser noch: Komm und befrei mich, damit wir den Bären gemeinsam zur Sau machen können   …
    «So, Herr Wallisch», Putzer wirft einen Blick auf seine Armbanduhr, «ich glaub, unser Freund ist bereit für die Übergabe. Schon fast halb elf, das müsste reichen   … Also dann   … War nett, mit Ihnen zu philosophieren   …»
    «Nein, warten Sie   … Einen Moment noch   … Warten Sie kurz   …»
    Hinhalten. Putzer hinhalten. Das ist mit einem Mal der zentrale Gedanke des Lemming. Er muss versuchen, Zeit zu schinden, so lange, bis Pokorny kapituliert, bis Pokorny seine Expedition beendet und den Rückzug aus der Antarktis antritt. Die Sache kann sonst kein gutes Ende nehmen, der Gegner ist übermächtig und – schon bald – im Besitz eines wuchtigen Pflastersteins   …
    «Was? Wollen Sie ’leicht mitkommen? Sie haben doch hier eh ein Logenplatz   …»
    «Ja   … Es ist nur   … Die Schmerzen. Ich spür meine Beine fast nicht mehr   …»
    «Tut mir ehrlich Leid für Sie, Herr Wallisch. Ein bisserl, wenn Sie sich noch gedulden, dann kommt Ihr gefrorener Held und befreit Sie. Ich sag ihm, dass Sie hier auf ihn warten, in Ordnung?»
    «Ja   … Aber   …»
    «Was ist denn? Was wollen S’ denn noch?»
    «Nur eine letzte Frage, weil ich’s einfach nicht versteh: Wenn Sie sich Ihrer Sache so sicher sind, wozu dann das ganze Versteckspiel?Die verschlüsselten Nachrichten? Und dann dieses Flüstern, diese verstellte Stimme am Telefon?»
    «Die Zahlencodes? Ganz einfach: eine Hommage an unseren Herrn Noah. Damit er auch sicher sein kann, dass die Botschaft für ihn bestimmt ist – das werden S’ ja wohl wissen, dass der Pokorny ein Faible für derlei kabbalistischen Kleinkram hat   … Und was die Täuschung am Telefon anbelangt: Wenn er gleich gemerkt hätte, dass ich der Unhold bin, dann hätt ich mir das Salzfass abschminken können, und damit auch die Belohnung. Es war ja anzunehmen, dass die Versicherung weitere Beweise will, bevor sie mich auszahlt: ein aktuelles Foto vielleicht oder den Dreizack vom Neptun   … Der Pokorny hätt sofort die anderen drei informiert, und ich wär mit leeren Händen dagestanden. Nein, Herr Wallisch, nicht dass Sie glauben, das war Jux und Tollerei. Ich spiele keine Kinderspiele mehr; das ist endgültig Schnee von gestern. Der Ernst des Lebens ist hundertmal spannender. Trotzdem muss man gerade mit Kindern in ihrer Sprache reden, damit sie einen verstehen. Ich hab mir das alles gut überlegt: Dass der Pepi am Samstag im Nachtdienst ist, hab ich gewusst, dass er auf meine erste, sanfte Warnung nicht eingehen wird, damit war zu rechnen, also: Auf nach Schönbrunn, um der Warnung die Drohung folgen zu lassen, dem Stofftier einen echten Vogel. Für ein Kind ist so ein strangulierter Pinguin ein Schock, für die Justiz dagegen eine Bagatelle, aber das wissen Sie wahrscheinlich. Großer Gewinn, winziges Risiko, also perfekt. Und dann hab ich auf den Anruf gewartet, auf das Friedensangebot. Hab mir extra ein Handy dafür gekauft, im Supermarkt, ganz anonym, nur für den unwahrscheinlichen Fall, dass der Pokorny doch zur Polizei geht. Sie hätten mich sehen sollen, Herr Wallisch: falscher Bart, Perücke, Sonnenbrille   … Man kann ja nie wissen, wo heut schon überall Überwachungskameras hängen. Und mit ein bisserl Pech   … Nein, nein: Wer nichtauf Nachsicht hoffen darf, der muss rücksichtslos vorsichtig sein   …»
    Über Putzers Miene zieht sich ein selbstgefälliges Grinsen. Mit stolzgeschwellter Brust steht er vor dem gekrümmten, gefesselten Lemming, fast so, als posierte er für einen Schnappschuss

Weitere Kostenlose Bücher