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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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ständig versichern, dass man zumindest die Ehrbarkeit gepachtet hat   …»
    Putzer steckt nun die Hände in die Hosentaschen und beginnt, vor dem Lemming auf und ab zu gehen.
    «Der Pokorny hat Sie zu Hilfe gerufen, stimmt’s? Wahrscheinlich schon vor ein paar Tagen   … Deshalb also   … Deshalb sind Sie gestern bei der Vernissage aufgetaucht: um für ihn die Lage zu sondieren, um uns auszuhorchen   …»
    «Und um mit anzusehen, wie sich Ihr Freund Florian das Leben nimmt   …», wirft der Lemming nun leise ein. Wieder wandert sein Blick ins Gehege hinüber, zu seinem Kollegen, der keine zehn Meter entfernt mit dem Rücken zur Glasfront steht und nichts von den Vorgängen mitbekommt. Pokorny zittert am ganzen Leib, von seinem Kopf steigt in kurzen, raschen Stößen der gefrorene Atem hoch.
    «Versager hin oder her   …», setzt der Lemming nach. «Aber wollen Sie den Pokorny jetzt auch noch in den Tod treiben?» Ein Schritt nur, und Putzer steht wieder vor ihm. Holt aus und schlägt ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Vergeblich versucht der Lemming, das Gleichgewicht zu halten; er kippt zur Seite wie ein nasser Sack.
    «So nicht, Herr Wallisch! So nicht! Sie können mir vorwerfen, was Sie wollen: dass ich mein eigenes Süppchen gekocht hab, von mir aus. Dass ich einen dieser lächerlichen Vögel geopfert hab, um den Pokorny, den alten Sturschädel, weich zu klopfen. Alles Geschmackssache, meinetwegen, geschenkt. Aber den Selbstmord vom Floh lass ich mir nicht in die Schuhe schieben! Ich hab meinen Entschluss gefasst under den seinen. Jeder von uns muss am Ende mit seinen Entscheidungen leben   …»
    «Oder sterben   …», stößt der Lemming hervor.
    «Oder sterben. Ganz richtig   …»
    Abermals beugt sich der Bär jetzt zum Lemming hinab, um ihn vom Boden hochzuzerren, diesmal jedoch auf eine vergleichsweise sanfte Art: Er fasst ihn an den Flanken und zieht den fest verschnürten Leib behutsam in die Vertikale.
    «Nichts für ungut, Herr Wallisch   … Die Sache mit dem Florian hat mir wirklich Leid getan. Wirklich. Ein bissel mehr Nerven, ein bissel mehr Standvermögen, und die ganze Welt wär ihm offen gestanden, bei den Millionen, die er früher oder später geerbt hätt. Der Löwin, dem Adler und mir sind solche Chancen nicht in die Wiege gelegt worden   …»
    «Und deshalb sind Sie   … den anderen in den Rücken gefallen? Für ein dickes Bankkonto? War’s das wert? War das die Freundschaft wirklich wert?»
    Putzer wiegt – scheinbar grübelnd – den Kopf hin und her, um aber gleich darauf in Gelächter auszubrechen.
    «Ich bitt Sie, Herr Wallisch! Kommen S’ mir doch nicht mit Ihrer lauwarmen Redlichkeit! Das ist was für Kinder, für ewige kleine Kinder wie den Pokorny und Sie, für Leut, die ihr Leben lang glauben, dass sie die Menschheit
gutdenken
können! Ihr missionarischer Eifer in allen Ehren, aber schauen Sie sich doch um! Wer ist es denn, der’s auf der Welt zu etwas bringt? Wer zieht denn die Fäden, wer hat denn die Macht im   … Dschungel des Diesseits? Zeigen Sie mir einen, nur einen Einzigen, der sich mit Güte und Barmherzigkeit durch diese Wildnis laviert hat, ohne als verkrachte Existenz zu enden, oder – im besten Fall noch – als Märtyrer! Nein, mein Herr. Wenn einer nicht fähig ist, kräftig den Hammer zu schwingen, dann kann er auch sein Glück nicht schmieden   … Und deshalb: Ja. Das war es wert. Schon allein der Versuch war es wert, weil er nämlich beweist, dass ich’s endlichkapiert hab. Dass ich endlich versteh, wie die Welt funktioniert. Dass ich endlich dabei bin, erwachsen zu werden!»
    Putzer hat sich in Schwung geredet. Heftig gestikulierend läuft er vor der Glasfront des Geheges hin und her.
    «Freundschaft? Aber sicher! Allianzen waren schon immer die kostengünstigste aller Versicherungen: Manchmal jagt es sich besser im Rudel, kein Zweifel. Aber Freundschaft um der Freundschaft willen? Ein infantiles Stillhalteabkommen, dem nichts anderes zugrunde liegt als die Angst zu unterliegen! Man hockt zusammen und versichert sich ein ums andere Mal seiner Friedfertigkeit; man schiebt seinen potenziellen Feinden den Knebel der Freundschaft ins Maul, nur dass man sich leider auch selbst damit knebelt.
Ich tu dir nichts, tu du mir auch nichts; ich hab dich lieb, hab du mich auch lieb
…»
    «Lieb   …», murmelt der Lemming. Und als der Bär abrupt zum Stehen kommt und ihn – halb fragend, halb ärgerlich – ansieht, fügt er hinzu: «Was

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