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Das Schweigen des Lemming

Das Schweigen des Lemming

Titel: Das Schweigen des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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… Nimmst halt ein Plastiksackerl   …», Pokorny blickt sich Hilfe suchend um, «schau, da drüben im Regal   …»
    «Aber   …»
    Jetzt ist es Pokorny, der keinen weiteren Einwand akzeptiert. «Mach’s gut, Poldi. Lass di net erwischen   …»
    Und er nimmt den schwarzen Koffer, um mit einem kampfesfrohen «Das schau ich mir an, wer da besser fliegen kann   …» in der Dunkelheit zu verschwinden.
     
    Drei viertel zehn. Der Lemming rotiert. Zweimal hat er das Wachhaus schon verlassen, den vierzehn Kilo schweren Plastiksack in Händen, der das markante Signet des Kaufhauses
Strawinsky
trägt: ein großes goldenes
S
auf blauem Grund – dem momentanen Inhalt also durchaus angemessen. Zweimal ist er bis zum hohen eisernen Tor vor der Maxingstraße gegangen, und zweimal ist er wieder umgekehrt.
    «Ich kann den Pokorny da oben nicht verkommen lassen   …»
    Kurz entschlossen tritt er zum Bücherregal, das an der Rückwand des Raums steht, stemmt die Plastiktüte hoch und schiebt sie hinter einen Stapel illustrierter Zeitschriften:Nachtwächterliteratur. Genauer gesagt: die nicht ganz stubenreine Sammlung eines früheren Kollegen   …
    «Au!»
    Ein Tropfen Blut quillt aus dem Mittelfinger: Der Dreizack des Neptun hat sich durch Wäsche und Kunststoff und Haut gebohrt. Der Lemming verhüllt die drei goldenen Spitzen wieder, so gut er kann, bedeckt das ganze Paket mit Hochglanzmagazinen, lässt einen letzten, prüfenden Blick durch den Raum schweifen und dreht das Licht aus.
    Zehn vor zehn. Der Lemming ist auf dem Weg. Er hastet im Schutz der Bäume den Hügel hinauf, nähert sich der dunklen Silhouette des Polariums, bis er – wenige Meter vom Hintereingang entfernt – das verwaiste Chassis des Elektrowagens aufschimmern sieht. Pokorny hat also Posten bezogen, er ist schon bei seinen gefiederten Freunden   …
    Fünf vor zehn. Der Lemming überlegt. Sich jetzt ins Pinguingehege zu schleichen, so denkt er, kommt nicht infrage. Es gilt, alles zu vermeiden, was Misstrauen wecken könnte, und ein zweiter Mann neben Pokorny wäre zweifellos dazu angetan. Hier draußen in der Finsternis zu warten ist aber auch keine Lösung: Spätestens dann, wenn der Erpresser den Koffer überprüft und den Pflasterstein darin findet, wird es zur Konfrontation kommen – und diese Konfrontation wird im Inneren des Gebäudes stattfinden.
    Drei vor zehn. Der Lemming sperrt das Haupttor des Polariums auf und schlüpft in die zentral gelegene Halle. Anders als in der Samstagnacht liegt der Besucherraum fast völlig im Dunkel; die drei Gehege, die ihn umgeben, sind selbst nur spärlich beleuchtet. Der Lemming schleicht nach rechts und bleibt vor der Panzerglasscheibe der Pinguinanlage stehen. Jenseits der Glasfront schillert – bis etwa in Brusthöhe – der türkisfarbene Wassergraben; dahinter erstreckt sich der graue Betonboden bis an die Rückwand des Zwingers. Aufgereiht wie russische Puppen stehen die zwölf Vögel; sie wenden demLemming die Kehrseiten zu und starren auf den künstlichen Horizont. Ein Abziehbild der Antarktis, wie schon am Samstag, und doch hat sich wieder ein Fehler, ein seltsamer Anachronismus in dieses Stillleben eingeschlichen: In der Mitte der Pinguinschar steht – ebenso reglos wie die Tiere   – Josef Pokorny. Zwölf Fräcke, ein grünes Sakko; zwölf Jünger, ein Heiland, fährt es dem Lemming durch den Sinn: Leonardos
Letztes Abendmahl
, wenn auch reichlich verfremdet und – vor allem – von hinten betrachtet   …
    Eine Minute vor zehn. Leise beginnen Pokornys Jackenzipfel zu zittern. Die Kälte scheint ihm nun doch in die Glieder zu kriechen, ein Zustand, konträr zu jenem des Lemming: In dessen Brust regt sich jetzt nämlich ein warmes Gefühl, eine Mischung aus Mitleid, Bewunderung und Zärtlichkeit für diesen seltsamen, hageren Mann. Das Leben hat Pokorny kaum mehr als sich selbst geschenkt, und der hat die Spende mit ausgebreiteten Armen entgegengenommen. Neugierig, trunken und dankbar, am Anfang zumindest. Im Laufe der Jahre dann zunehmend müde, weil er erkennen musste, dass ein Logenplatz im Leben meistens einen Stehplatz in der Welt bedeutet. Nach und nach hat sich die Neugier wohl nach innen gestülpt, hat einen Anflug von Selbstironie bekommen, ist – ohne Gram und Verbitterung – ins Kauzige gekippt: Pokorny mag zwar ein Eigenbrötler sein, Menschenfeind ist er beileibe keiner. Im Gegenteil, er hütet seine Daseinslust wie einen Gral, der nur darauf wartet, von anderen

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