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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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Ofer Silberman, der Problematische, der immer alle ärgerte. »Kröte, Kröte, qua-qua qua!« Die anderen Kinder stimmten vergnügt ein, und auch ich sang mit der ganzen Horde: »Qua-qua-qua! Brachas Vater ist gaga!«

    Ich saß, tief in Gedanken versunken, vor dem Computer. Plötzlich schoss mir durch den Kopf: Vielleicht schreibe ich über meinen Vater? Und sofort verspottete ich mich selbst: Was willst du denn schreiben? Ein Buch wird das nicht werden, das reicht noch nicht mal für einen Absatz. Man sagt, Jakob Roża sei mein Vater und dann gestorben, fasste ich in einem Satz alles zusammen, was ich von ihm wusste.
     
    In diesem Moment stand mein Mann in der Tür. »Was hältst du von einem Abend ohne Shoah?«, fragte er und winkte mit einer DVD.
    »Ein Actionfilm«, versprach er.
    Erleichtert schaltete ich den Computer aus.

2
    ZWEI TAGE DANACH, um die Mittagszeit, hatte ich Bracha zu Hause am Telefon.
    »Wie ich versprochen habe«, verkündete sie mir begeistert, »ich habe eine Überraschung für dich.« Sie schickte mich zu meinem Faxgerät.
    »Von Auschwitz wurde ich in das Arbeitslager Skarżysko-Kamienna geschickt, dort mussten die Gefangenen Handgranaten säubern und füllen. Ich kam 1944 dorthin«, las Bracha mir den Bericht vor, den sie mir gerade auch gefaxt hatte.
    »Dort im Lager befahl der Deutsche und der Pole prügelte, und ein Gefangener war des anderen Gefangenen Feind. Tagsüber füllte ich Handgranaten mit TNT, nachts musste ich die Gefangenen begraben, die an TN T-Vergiftung oder an Erschöpfung gestorben waren.« Brachas Stimme klang getragen und feierlich, als stünde sie während einer Gedenkzeremonie am Tag der Shoah vor einem Mikrophon.
     
    Während Brachas sägende Stimme noch aus dem Telefonhörer drang, kam mir plötzlich der Mohnkuchen in den Sinn. Ich konnte ihr nicht zuhören und schaffte es auch nicht, das Gespräch zu beenden. Ich zog eines meiner vielen Kochbücher aus dem Regal und blätterte darin.
    »Manchmal musste ich nach einer Explosion die verstreuten Gliedmaßen der Menschen zusammensuchen, und dann,mit ihrem Blut und mit meinem Blut an den Händen, fuhr ich fort, Handgranaten zu füllen. Es war die Hölle. Am Ende des Kriegs war ich in einem anderen Lager, bei Leipzig. Von dort wurden wir auf einen Todesmarsch geschickt. Ich war barfuß, meine Füße erfroren im Schnee. Ich ging langsam, ich hoffte, sie würden mich umbringen, ich wollte sterben. Aber das Schicksal wollte es anders. Ich erreichte Buchenwald, dort verlor ich das Bewusstsein. Erst warf man mich auf den Leichenberg, aber ein amerikanischer Soldat hatte den Verdacht, dass ich noch atmete, und schob meinen Körper in eine Ambulanz. Einige Tage nach Kriegsende kam ich wieder zu mir und musste feststellen, ich war noch am Leben, zu meinem Bedauern.«
     
    In meinem Kopf hallte auch das Klappern der Schreibmaschine des starren und fremden Beamten wider, der den Bericht meiner Mutter aufgenommen hatte.
    »Das war ein grauenvolles Lager, es gibt fast keine Überlebenden von dort. Die Menschen starben an Gift, andere starben, wenn kaputte Granaten explodierten. Wer am Leben blieb, musste die Leichenteile der Soldaten und der Gefangenen einsammeln, die überall verstreut waren   …«
    Ich wusste, Bracha würde bis zum Ende dieses Berichts keine Ruhepause einlegen.
    Ich schloss die Augen und hörte weg, schuf mir selbst Ruhe, und in der Stille, die jetzt um mich war, sah ich meine Mutter vor mir, wie sie in ihrem Bett gelegen hatte, mit herunterhängenden Armen, sie atmete langsam, kein Ruf, kein Lärm erreichte sie, sie war versunken in eine Welt, in der es keine Albträume mehr gab.
    Sie war noch am Leben. Zu ihrem Bedauern.
    Ich erinnerte mich auch, wie sie immer gefleht hatte: »Dr.   Wollmann, bitte, bitte, geben Sie mir etwas, damit ich schlafen kann.« Nachts, in der Dunkelheit, starb sie dann, wie sie es gewollt hatte, starb für ein paar Stunden.
    »Also, was sagst du?« Brachas Stimme bohrte sich wieder in mein Ohr. »Was sagst du, wie bin ich, nun? Du hast wirklich Glück gehabt, dass ich ganz unten auf diesem Bericht ihre Unterschrift entdeckt habe: Helena Hochdorf, Warschau«, jubelte sie. »Und das ist noch nicht alles«, sagte sie voller Begeisterung. »In Yad Vashem habe ich auch die Namen von neunhunderteinundachtzig Verwandten gefunden, aus der Familie deines Vaters, die alle umkamen, wirklich alle. Ich habe dir die Liste schon gefaxt.«
    »In der Tat eine erfreuliche Nachricht«, antwortete

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