Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
Vom Netzwerk:
Wort zu mir gesagt.
    Es gab ihn einfach nicht.
    Der Stau vor der Ampel wurde länger. Einige Autofahrer verloren die Geduld und begannen zu hupen.

    »Und du   – weißt du etwas über ihren Vater?«, wandte sich Bracha an Dorit.
    Dorit wusste etwas, da war ich mir sicher. Ich zitterte, ich hatte Angst vor der Antwort.
    »Du weißt doch alles, was fragst du mich dann?«, fuhr Dorit Bracha wütend an.
    »Frag doch deine Mutter«, forderte Bracha mich auf. »Vielleicht war er ja ein Kapo?«
    »Ein Kapo?« Ich wurde blass.
    »Du musst sie fragen. Das geht doch nicht, dass du nichtweißt, wer dein Vater ist«, drängte mich Bracha, als wäre es eine Frage des Prinzips.
    »Sie hat noch keine Periode bekommen«, kam Dorit mir zu Hilfe.
    »Komm, lass uns vor ihr weglaufen«, flüsterte ich. Diese Idee gefiel Dorit. Wir nahmen uns an den Händen, rannten bis zum Ende der Allee und versteckten uns in einem Hauseingang.

    Ein herbeigerufener Polizist dirigierte mit Handbewegungen die Autos weiter, die an der Ampel feststeckten. Ich warf noch einen Blick auf die Häuser und auf die Allee, bevor ich in die Schnellstraße einbog, die mich zu meiner Wohnung bringen würde, weit weg von dem Grauen der Erinnerungen.
    Zu Hause angekommen, machte ich mir einen Kaffee, dann setzte ich mich an den Computer. Ich legte einen neuen Dateiordner an. Bis Ende Mai sollte ich meinem Verlag das Exposé meines neuen Buchs schicken. Meine Gedanken ließen mir keine Ruhe, sie kreisten wie gebannt um jenen Sommer.

    Kein Kapo   – ein Partisan! Ich erinnerte mich, dass Golda gesagt hatte, Brachas Onkel sei Partisan gewesen, ich hatte gehört, wie sie erzählte, er sei ein mutiger Kämpfer gewesen. Mein Vater war ein Partisan, sagte ich mir, um meinen inneren Aufruhr zu besänftigen. Ich sah ihn vor mir, groß und stark, er war nicht allein, mit ihm zusammen sah ich eine GruppeMänner, die mit Stöcken und Äxten gegen die Deutschen kämpften und sie besiegten.
    Ich spähte aus dem Hauseingang, in dem Dorit und ich uns versteckten, hinaus auf die Straße. Ich hatte Angst, Bracha könnte zurückkommen.
    »Über Tote darf man nicht sprechen, das steht bestimmt schon in der Bibel.« Dorit kam von meinen Toten nicht los. Und dann versuchte sie auch noch, eine Theorie auf meine Kosten zu entwickeln. »Vielleicht darf man nur mit Kindern nicht über Tote sprechen. Aber die Erwachsenen wissen bestimmt alles. Ich werde meine Mutter fragen.«
    »Und frag auch Fejge!« Mir lag vor allem daran, sie zum Schweigen zu bringen.
    »Warum Fejge?« Dorit wurde rot.
    »Weil deine Mutter und Fejge sich immer widersprechen.« Es tat mir gut, sie in Verlegenheit gebracht zu haben.
    »Und frag Fejge zuerst«, stichelte ich.
    »Du weißt, dass ich manchmal bei Fejge und Wladek schlafe, dass ich zwei Zuhause habe, zwei Zimmer, zwei Väter und zwei Mütter.« Sie zahlte es mir doppelt heim.
    Ein Erstickungsgefühl breitete sich in mir aus, der Atem blieb mir im Hals stecken, meine Lungen pfiffen wie bei einem Alarm.
    Wenn doch nur mein Vater endlich sterben und meine Mutter es allen sagen würde, wünschte ich mir. Dann würden es alle wissen und niemand würde mich mehr drangsalieren.
    Ich holte den Inhalator heraus. Plötzlich kam von anderer Seite Rettung. Von nebenan war das Klirren zerbrechenden Glases zu hören, noch einmal, immer wieder.
    »Poschibuzki!«, riefen Dorit und ich aufgeregt.
    Wir spähten hinaus und sahen Chajim Poschibuzki, denGlaser, der eine Hacke schwang und Glasscheiben zerschlug.
    »Poschibuzki!«, rief ich noch einmal und steckte den Inhalator wieder in die Tasche.
    Dorit und ich rannten hinüber zum tobenden Herrn Poschibuzki. Zu seinen Füßen sahen wir Bracha auf dem Rasen kauern, so krötenartig, wie sie es oft tat, beide Hände zum Schutz über den Kopf gelegt. Wir sahen auch Glasscherben durch die Luft fliegen, glitzernd im Licht der Mittagssonne, und hörten sie mit einem scharfen, Schauder erregenden Klirren auf den Boden fallen.
    Dorit und ich beobachteten, zusammen mit all den anderen, sich langweilenden Kindern des Viertels, Herrn Poschibuzkis Auftritt. Golda, seine Frau, beugte sich schützend über ihre Bracha.
    Ich starrte Brachas tobenden Vater an und dachte plötzlich, dass vielleicht auch mein Vater, genau wie Chajim Poschibuzki, der Glaser, weder Partisan noch Kapo war, sondern einfach nur verrückt.
    Vielleicht hatte meine Mutter recht, dass sie überhaupt nichts von ihm erzählte.
     
    »Kröte, Kröte, qua-qua-qua«, rief

Weitere Kostenlose Bücher