Das Schweigen meiner Mutter
»Tuberkulose ist eine Krankheit mit trügerischem Verlauf, das wissen Sie …«
Wieder war ich in dem alten Kampf gefangen – meine Mutter wollte verbergen, ich wollte aufdecken.
Ich war vom Kindergarten zurückgekommen. Auf dem ganzen Weg hatte ich meinen Brummteddy an mich gedrückt, den ich so liebte. Als ich zu Hause ankam, war da auch Dr. Wollmann. Er stand mit meiner Mutter in der Küche, er habe ihr etwas Wichtiges mitzuteilen, sagte er. Ich wollte zuhören, aber genau in diesem Moment gab der Teddy einen Ton von sich.
Meine Mutter schickte mich und den Teddy hinaus. Ich rührte mich nicht von der Stelle. Sie schob mich zur Tür, ich stemmte meine Füße auf den Boden und warf den Teddy in die Ecke. Seine Glasaugen sprangen ab. Dr. Wollmann versuchtemich zu beruhigen, er versprach, er würde meinen Teddy mit in die Praxis nehmen und ihn behandeln. Ich schämte mich zu sagen, ich wisse doch, dass er kein Puppendoktor sei, ich sei schließlich kein Baby mehr. Ich lief weg und schloss mich in meinem Zimmer ein. Ich legte das Ohr an das Schlüsselloch, konnte aber nichts hören.
Ich nahm Sahava, meine Stoffpuppe, und ging wieder in die Küche.
»Geh zurück in dein Zimmer«, befahl mir meine Mutter.
»Aber Sahava will hier sein«, beharrte ich.
Meine Mutter schob mich wieder hinaus und schloss die Tür.
»Sie bringt mich noch um«, beklagte sie sich bei Dr. Wollmann.
»Ich gehe zu Dorit«, drohte ich und trat gegen die Tür.
Die Glasfüllung zerbrach. Ich fing an zu weinen.
Dr. Wollmann kam und untersuchte meinen Fuß, mit dem ich gegen die Tür getreten hatte. »Alles in Ordnung«, sagte er, »es ist nichts passiert.« Er streichelte mir über den Kopf, ging zurück in die Küche und unterhielt sich weiter mit meiner Mutter.
Ich setzte mich auf den Boden, starrte durch das Loch im Glas und lauschte.
»Schsch«, sagte meine Mutter zu Dr. Wollmann, »das Kind kann uns hören.« Sie warf ihm einen warnenden Blick zu.
Sie unterhielten sich flüsternd weiter. Ich konnte nichts mehr verstehen, aber ich zitterte am ganzen Körper.
»Muss Papa sterben?«, fragte ich meine Mutter, nachdem Dr. Wollmann gegangen war.
»Natürlich, alle müssen am Ende sterben«, antwortete sie.
Sie blieb in der Küche, schälte eine Zwiebel und hackte sie klein. Sie wandte mir den Rücken zu, ganz und gar auf das Zerhacken der Zwiebel konzentriert, stand sie in der Ecke zwischen Spülbecken und Anrichte, in ein lang dauerndes zorniges Schweigen gehüllt.
»Beschäftige dich nicht mit den Toten«, rief ich mir wieder in Erinnerung, was meine Mutter mir befohlen hatte.
Ich schob die Schublade zu und kehrte an den Computer zurück.
»Aber ich will es wissen«, sagte ich plötzlich zu ihr. Die Worte kamen wie von selbst aus meinem Mund.
Ich starrte auf den Bildschirm, versuchte meinen Seelenfrieden wiederzufinden und summte ein Lied vor mich hin.
»Hör auf, so falsch zu singen«, rief mein Mann aus der Küche.
»Verlass das Klassenzimmer.« Von allen Kindern war ich die Einzige, die vom Musiklehrer aus dem Flötenunterricht geschickt wurde.
»Sie spielt nicht im Takt«, sagte er zu meiner Mutter, die in die Schule bestellt worden war.
»Na und?«, entgegnete meine Mutter.
»
Jeder hat sein eigenes
Maos Zur
4 .«
Der Lehrer verstand es nicht, ebenso wenig wie ich.
»Ich kann so nicht unterrichten«, sagte er zornig.
Meine Mutter warf ihm einen hochmütigen Blick zu.
»Mögen Sie sich ein langes Leben verdienen«, sagte sie höflich und beendete damit die Unterredung. Dann nahm sie mich am Arm und führte mich hinaus. Ich war bestürzt.
»Warum hast du ihm ein langes Leben gewünscht?«, fragte ich wütend.
»Damit er noch sieht, wie erfolgreich du sein wirst, und sich die Zähne daran ausbeißen kann, bis er alt und grau ist, bis hundertzwanzig«, antwortete sie mit einem Lächeln, und bei dieser Gelegenheit versprach sie mir, sie würde meine Flötenlehrerin werden.
Am nächsten Tag fing sie an, Flötenspielen zu lernen.
»Das ist gar nicht so schwer«, tröstete sie mich, als sie sich daranmachte, mich zu unterrichten. »Du wirst vermutlich keine große Flötistin werden«, musste sie einräumen, »aber wenn du es willst, kannst du eine berühmte Komponistin sein.«
Sie versprach mir eine tröstliche Zukunft.
»Ich singe nicht falsch, ich komponiere«, rief ich von meinem Arbeitszimmer aus meinem Mann zu.
»Schreib lieber«, war sein großzügiger
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