Das Schweigen meiner Mutter
ich.
Schon seit Jahren hatte ich keinen Mohnkuchen mehr gebacken. Das Blättern im Kochbuch entspannte mich, mein Blick streifte über die Fettflecken und die Spuren von Schokolade und Marmelade auf den Seiten meines ersten Backbuchs und blieb an einem unpassenden Rezept hängen: Hefeschnecken mit Mohn.
»Und vergiss nicht, dass meine Mutter dich wirklich erwartet«, schrie Bracha aus dem Hörer, den ich zwischen Ohr und Schulter geklemmt hielt.
»Ich weiß.«
»Nun, wann kommst du?«
»Wenn sich eine Gelegenheit ergibt.«
»Du hättest wenigstens sagen können, dass du bald kommst«, sagte sie und legte enttäuscht auf.
Als sie das Gespräch beendete, blätterte ich bereits das dritte Buch mit Backrezepten durch.
Das bunte Foto eines Mohnkuchens mit Äpfeln lockte mich. Ich begann die Zutaten zusammenzusuchen: 150 Gramm Margarine, 3 Eier, 1 Tasse Zucker, 1 Tasse Milch, 1 Esslöffel Brandy … – und stellte fest, dass ich keinen Brandy hatte. Morgen werde ich Brandy kaufen, sagte ich mir, und kehrte an meinen Schreibtisch zurück.
Im Fax auf dem Tisch erwarteten mich Brachas Überraschungen. Neunhunderteinundachtzig Verwandte.
Mein Blick glitt über die Namen. Die Familie meines Vaters, so stellte sich heraus, war groß an Zahl gewesen.
Ich las einen Namen nach dem anderen, sie sagten mir nichts, ich kannte keinen von ihnen.
Müdigkeit überfiel mich. Ich nahm die Blätter und legte sie in die Schublade mit den Dokumenten, die ich nach dem Tod meiner Mutter aus ihrer Wohnung mitgenommen hatte. »Ruht in Frieden«, sagte ich. Modergeruch stieg aus der Schublade auf.
»Ich hinterlasse dir kein Erbe.« Das Versprechen meiner Mutter kam mir in Erinnerung. »Was haben Juden schon zu vererben? Nur Sorgen und Hämorrhoiden.«
Die modrige Schublade war randvoll mit Papieren: Zettel, Dokumente und bunte Ansichtskarten. Ich erinnerte mich, dass meine Mutter immer auf diese Karten gewartet und sie stundenlang betrachtet hatte. Sie las einen oder zwei Sätze, die jemand ihr auf Polnisch geschrieben hatte, sank in sich zusammen, murmelte manchmal etwas vor sich hin und versteckte die Karten dann im Kleiderschrank, zwischen der Bettwäsche.
In der Schublade waren auch die Laborberichte unddie Röntgenaufnahmen, die sie ebenfalls vor mir versteckt hatte, sowie Grundsteuer-, Wasser- und Telefonrechnungen, die mit den Jahren verblasst waren. Hier lagen die Geheimnisse, die meine Mutter für immer und ewig hatte bewahren wollen.
Meine Hände zitterten wie damals, als ich heimlich in ihrer Tasche gewühlt hatte, auf der Suche nach etwas, mit dessen Hilfe ich den Geheimnissen auf die Spur kommen könnte.
Einen Moment lang ergriff mich wieder die Furcht, die mich damals erfüllt hatte, das Gefühl, meine Mutter könnte mich, obwohl sie tot war, dabei erwischen, wie ich in verbotenen Papieren wühlte. Wann immer meine Hand diese Schublade berührte, hatte ich das Gefühl, ihren Blick in meinem Rücken zu spüren.
Seit Jahren moderten die Papiere in der Schublade vor sich hin, ihrem Schicksal überlassen. Sollen sie doch vermodern, sollen sie doch verschwinden, wie sie es immer gewollt hatte, dachte ich, ein altbekannter Zorn packte mich.
Doch vielleicht, fiel mir plötzlich ein, ist hier auch das Rezept für den Mohnkuchen meiner Mutter. Nach Jahren hatte ich wieder Lust zu backen, deshalb blätterte ich zum ersten Mal alles in der Schublade durch, drehte ein Blatt nach dem anderen um, bis ich auf ein sorgfältig zusammengefaltetes Stück Papier stieß. Das Mohnkuchenrezept? Ich faltete es auseinander.
12. 10. 1952
Hiermit bestätigen wir, dass das Paar Jakob Roża und Helena Hochdorf bei uns zur Eheschließung registriert wurde.
Helena, Tochter von David Hochdorf, geboren in Polen im Jahr 1920.
Jakob, Sohn von Mosche Roża, geboren in Polen im Jahr 1918.
Unterschrift: Rabbiner Gross, Rabbinat Givatajim.
Zeugen: Schmulik Rosenfeld, Wladek Friman.
Ich legte das Blatt in die Schublade zurück und wühlte weiter, ich wollte unbedingt das Originalrezept finden.
»Das ist immerhin ein Kuchen für Beerdigungen«, hörte ich meine Mutter lachend sagen, wenn wir uns bemühten, den harten Kuchen in Scheiben zu schneiden.
»Tuberkulose« las ich jetzt auf einem ärztlichen Attest, mit dem Briefkopf Dr. Wollmanns, aber es gelang mir nicht, seine Handschrift zu entziffern.
»Der Zustand hat sich verschlechtert …«, hörte ich Dr. Wollmann wieder sagen.
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