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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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Gegenvorschlag.
    »Aber mir sind die Worte geflohen«, sagte ich und fuhr fort zu summen, bis mein Hals trocken war. Erst dann verstummte ich und ging in die Küche, um mir ein Glas Wasser zu holen. Dort saß mein Mann, vertieft in den Wirtschaftsteil der Zeitung.
    »Ich hätte für mein Leben gern einen Kaffee«, sagte er, schnell die Gelegenheit nutzend.
    »Das Leben erfüllt einem nicht jeden Wunsch«, antwortete ich.
    Er schaute über den Rand der Zeitung. »Also wirklich   …«
    »Was für einen Kaffee?«, fragte ich.
    »Das fragst du noch? Nach dreißig Jahren?«
    »Klar«, antwortete ich. »Wie kann ich es wissen? Vielleicht ist es heute anders.«
    Wir lachten. Er blieb in der Küche, mit dem Kaffee und der Zeitung, ich ging mit einem Glas Wasser zum leeren Bildschirm zurück.

    »Viele Intellektuelle und Künstler erkrankten an Tuberkulose, die Dichterin Rachel hatte Tuberkulose und auch Scholem Alejchem, Tschechow, Orwell«, hatte Ruthi, die Lehrerin für Literatur, uns erklärt. Was hätte ich mir Besseres wünschen können! Ich feierte die Entdeckung. Mein Vater war kein Kapo und auch nicht verrückt, mein Vater war ein Intellektueller. Ein neuer Vater nach meinem Herzen!
    »Mein Vater hat Tuberkulose«, flüsterte ich Chajale zu, die neben mir saß.
    Chajale wurde rot, und Ruthi, die Lehrerin, warf uns einen erstaunten Blick zu. »Ist was?«, fragte sie mich.
    Ich senkte den Blick, erfüllt von Freude.
    »Ich sehe dir an, dass du Literatur liebst«, sagte die Lehrerin zu mir, vor allen in der Klasse.
     
    Beim Elternabend sagte Ruthi zu meiner Mutter: »Ihre Tochter hat in der letzten Stunde geglänzt«, und dann gab sie ihr die Liste der empfohlenen Bücher für interessierte Schüler.
    Meine Mutter kaufte mir den
Zauberberg
. Sie kam die Treppe zu unserer Wohnung herauf, die beiden Bände an sich gedrückt, die in buntes Geschenkpapier eingewickelt und mit einem Band zusammengebunden waren.
     
    Mama, hattest du mir einen Hinweis geben wollen?, fuhr es mir jetzt plötzlich durch den Kopf. Wolltest du mir eine geheime Botschaft zukommen lassen? Oder hast du nur einfach Literatur geliebt?
     
    Damals las ich gierig jedes Wort, jeden Satz, jeden Absatz. Ich sah meinen Vater in einem kalten Bett liegen, in einem gestreiften Pyjama, und eine Krankenschwester, die sich schweigend über ihn beugt und ein weißes Laken über sein stummes Gesicht zieht.
    »Mama, hat mein Vater Tuberkulose?«, fragte ich, nachdem ich alle Krankheitssymptome gesammelt hatte.
    Meine Mutter hob den Blick zur Zimmerdecke. »Herr, der du uns auserwählt hast, was willst du von mir?«
    Mein Vater ist beides, ein Intellektueller und ein Partisan, sagte ich mir, und er hat im Unabhängigkeitskrieg gekämpft. Ich spielte alle Trümpfe auf einmal aus.
     
    Das Telefon klingelte. »Nun, was sagst du, wie bin ich? So ist Bracha, man bittet mich um etwas und schon finde ich es. Frag Chajale Fink, frag auch Sabusch Koslowski, erinnerst du dich an ihn? Weißt du noch, wie seine Mutter in jeder Pause mit Karottensaft angekommen ist? Sabusch war bestimmt wegen ihrer Karotten ein Rotschopf.« Sie kicherte über ihrenWitz. »Und du erinnerst dich doch bestimmt noch an Siva Sablodowitsch. Das war dieses Flittchen, das mich nie zu ihren Partys eingeladen hat, sie hat mit Itzik rumgemacht, Dorits Bruder, sie hat ihm ihre Titten gezeigt, noch bevor sie welche hatte! Heute lebt sie in Amerika. Und sogar sie will mich plötzlich treffen. Am Ende landen alle bei mir. Schön, dass du mich ebenfalls angerufen hast. Also, jetzt sag, was willst du noch wissen?«
    Fast hätte sie mich überzeugt, dass ich es war, die bei ihr angerufen hatte.
    »Danke, dass ich dich angerufen habe«, sagte ich, aber Bracha hörte, wie üblich, überhaupt nicht zu.
    »Du wirst es nicht glauben, aber sogar Silberman, der Problematische, der, der dich immer Dein-Vater-ist-tot genannt hat und mich Kröte, sogar er hört nicht auf, mich anzurufen.«

    »Dein-Vater-ist-tot!«, hatte Ofer am Ende jenes Sommers geschrien, zu Beginn der vierten Klasse.
    »Mein Vater ist im Unabhängigkeitskrieg gefallen, er ist beim Kampf um den Weg ins belagerte Jerusalem gefallen!«
    Ich hatte den Tod meines Vaters aufgewertet, ich hatte mir einen Helden als Vater erfunden, einen, der den ganzen Geleitzug gerettet hatte, der ins belagerte Jerusalem hinaufgezogen war. Ich dachte, alle würden neidisch sein.
    »Alisa ist fünf Jahre nach dem Tod ihres Vaters auf die Welt gekommen«, spottete Ofer

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