Das Schweigen meiner Mutter
vergnügt. »Ihr Vater ist 1948 gefallen, und sie ist 1953 geboren.« Er kugelte sich vor Lachen und mit ihm lachten alle anderen Kinder der Klasse.
Meine Mutter zog aus, mich zu verteidigen. Ich wusste nicht, wie sie es erfahren hatte, aber sie rannte aus dem Haus, ich hinter ihr her, und stürmte zu Silbermans.
»Oferke«, rief sie und ihre Augen bohrten sich in ihn wie Nägel in Holz. Der entsetzte Ofer begriff, dass er sich mit meiner Mutter angelegt hatte. Er sprang aus dem Fenster in den Hof und floh von dort auf die Straße.
Frau Silberman hatte in der Küche den Lärm gehört und kam ins Zimmer.
»Was kann ich machen?« Ihre Lippen zitterten, auch sie war erschrocken beim Anblick meiner Mutter. »Ich entschuldige mich. Das ist es, was ich bekommen habe,
a schwarz kind, a wilde chaje
5 .« Sie strich mir mit ihrer zitternden Hand über den Kopf.
»Woss ken ich machn?«
, fragte sie meine Mutter ehrfürchtig, bat um Erbarmen für den schwarzen, wilden Jungen, den ihr der Staat Israel zur Adoption zugeteilt hatte.
»Gib ihn zurück«, schlug meine Mutter vor.
Wir gingen, und auf dem ganzen Heimweg war zwischen uns nichts als der Widerhall unserer Schritte.
Mitten in der Nacht machte ich mich über alle Fotoalben her, die wir im Haus hatten.
Ich durchwühlte die Regale und Schränke auf der Suche nach einem versteckten Beweis für meine Geburt. Ich schlich mich ins Zimmer meiner Mutter und nahm ihre Ledertasche, fand aber nur Schokolade darin, Bonbons, ein Stück Brot und einen Zettel mit den Telefonnummern des Notrufs, der Polizei und der Feuerwehr.
»Was suchst du eigentlich?«, fragte meine Mutter. Sie war von den Geräuschen aufgewacht.
»Ein Foto von dir, als du schwanger warst«, stammelte ich.
»Es gibt keins«, antwortete sie.
Stotternd brachte ich den neuen Albtraum meines Lebens heraus. »Ich bin also auch adoptiert?«
»Bist du jetzt völlig übergeschnappt?« Meine Mutter wurde wütend.
Ich ging in mein Zimmer zurück. Sie folgte mir und sammelte flink alle herumliegenden Fotos zusammen. »Ich hätte kein Mädchen von irgendjemand anderem genommen«, wehrte sie das, was ich fürchtete, ab. »Am Ende hätte ich auch so
a wilde chaje
wie Ofer bekommen.«
»Warum hast du dann kein einziges Foto, auf dem du schwanger bist?«, fragte ich sie, während sie die Alben wieder an ihren Platz räumte.
»Was, bin ich Greta Garbo?« Sie kicherte. »Die hat Zeit, sich fotografieren zu lassen.« Sie schloss die Schranktüren mit dem Schlüssel ab. »Und jetzt geh schlafen«, befahl sie mir, machte das Licht aus, ging aus dem Zimmer und überließ mich meinen Phantasien.
Ich machte das Licht wieder an, stellte mich vor den Spiegel und verglich mein Aussehen mit ihrem, die Nase, die Augen, die Lippen, die Größe, die Füße, die Hände.
Sehe ich ihr ähnlich? fragte ich den Spiegel.
Ich bin dunkler als sie, beantwortete ich meine Frage. Meine Augen sind brauner als ihre. Meine Haare sind dunkel und lockig. Man hatte ihr ein schwarzes Mädchen gegeben, folgerte ich. Auch ich bin, genau wie Ofer,
a wilde chaje, a schwarz kind
. Ich erschauerte. Jetzt wusste ich es. Deshalb antwortete mir keiner auf meine Fragen.
»Dein-Vater-ist-tot … Dein-Vater-ist-tot! Dein-Vater-ist-tot!«, schrie Ofer auch am nächsten Tag. Nachdem der Unterricht vorbei war, bahnte ich mir einen Weg durch die johlenden Kinder und rannte nach Hause. »Dein-Vater-ist-tot!«, schrien sie mir im Chor hinterher. Ich kam völlig atemlos zu Hause an.
»Mama, stimmt es, dass mein Vater tot ist?«, fragte ich.
Meine Mutter blieb wie elektrisiert zwischen Spülbecken und Anrichte stehen. »Wer hat das gesagt?«, fragte sie. Ihre Hände zerquetschten Kartoffeln zu Püree.
»Ofer Silberman!«, antwortete ich wütend.
»Dann hat er es eben gesagt.« Meine Mutter warf mir einen unbewegten Blick zu.
»Dann ist er also tot?«, fragte ich erschrocken.
Meine Mutter antwortete mir nicht. Sie stellte Schnitzel, Püree und Salat auf den Tisch und erinnerte mich daran, dass man beim Essen nicht spricht.
Sie kreiste durch die Wohnung, und die Heftigkeit, mit der ihre Absätze auf den Boden knallten, zeigte mir, dass sie auf Hochtouren kam.
Ich brachte nichts runter, weder das Schnitzel noch das Püree.
Meine Mutter gab angesichts meines langsamen Esstempos auf.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte sie und verließ das Haus.
Ich warf das Essen in den Mülleimer und rannte ihr nach.
Sie marschierte wieder zu den Silbermans.
Weitere Kostenlose Bücher