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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
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sie wollte einen waschechten Israeli aus ihm machen. Vergiss nicht, er ist in einem Lager auf Zypern geboren, in Wirklichkeit war er keinen einzigen Tag lang ein Sabre. Während seiner Armeezeit hat er furchtbar gelitten. Als er den Militärdienst beendet hatte, gab Fejge ihm ihr Wiedergutmachungsgeld und drängte ihn, uns und das Land zu verlassen und im Ausland zu studieren. Sie hat ihm die Flucht vor uns allen ermöglicht. Jahrelang hat er nichts mehr von sich hören lassen. Heute unterrichtet er Philosophie und Geschichte in Boston, und was seine Mädchengeschichten betrifft, so hängt ihm auch noch heute immer ein blödes Weibsstück am Hals.« Ihrer Stimme war kein Gefühl anzuhören.
    »Und was ist zwischen euch?«, fragte ich.
    »Amerika«, sagte sie mit verschlossenem Gesicht, »das ist weit weg.«
    Am Himmel verwandelte sich das Blau des Tages in ein Stahlgrau. In den umliegenden Siedlungen gingen die Lichter an.
    Dorit wechselte das Thema. »Du weißt, dass ich die Nacht liebe«, sagte sie.
    Sie wollte nicht mehr über Itzik sprechen und ich stellte keine weiteren Fragen.
    »Die Nächte verbringe ich in der Chirurgie, ich höre dieBeatmungsgeräte, ich sehe die Anzeigen des EKGs und sonst ist da nur Stille.«
    »Arbeitest du nur nachts?«, fragte ich. »Bist du eine
kurve
geworden?« Wieder gelang es mir, sie zum Lächeln zu bringen.
    »Ich war schon immer eine Nachteule.«
    »Du?«, fragte ich erstaunt.
    »Ja.«
    »Wieso habe ich das nicht gewusst?«
    »Ihre wichtigsten Gedenkzeremonien pflegte meine Mutter nachts abzuhalten.« Sie rührte offenbar an eine Wunde.
    Ich hütete mich, weitere Fragen zu stellen, ich wollte nicht eindringen, keine Grenze überschreiten.
    Wir erreichten das Tor. Der Rasenmäher ratterte wieder. Dorits Blick war unruhig. Neue Geheimnisse trennten uns. Nur über die alten konnte man reden, und über sie auch nur wenig und mit großer Vorsicht. Über Alon, über Aksam, über Itzik werden wir nicht sprechen, dachte ich traurig.
    Der Lärm des Rasenmähers wurde lauter. Ich verabschiedete mich und wollte gehen.
    »Warte einen Moment«, sagte Dorit plötzlich.
    Sie ging zu den Fotoalben auf dem Gartentisch und zog ein Foto heraus.
    Ich warf einen Blick auf das vertraute Bild: ich mit fünf, in einem Purimkostüm, als Krakowiak-Tänzerin verkleidet, und hinter mir dichtes Gebüsch.
    »Ich habe dieses Bild auch in meinem Album.« Ich lächelte.
    »Das ist dein Vater«, sagte Dorit und deutete auf das Gebüsch.
    »Was?« Ich begriff nicht.
    »Ich habe mich plötzlich daran erinnert, dass Fejge mir gesagt hat, das sei dein Vater«, sagte Dorit.
    Ich betrachtete das Gebüsch. Zum ersten Mal entdeckte ich eine Stirn, eine Haartolle und ein Augenpaar. Ich versuchte, das Bild zu vervollständigen, ein Phantombild zu erstellen, ich versuchte aus meiner Erinnerung den Mann hervorzuziehen, der da aus dem Gebüsch spähte   – nichts.
    »Das wurde bestimmt zu der Zeit aufgenommen, als er noch das Sanatorium verließ und zu Besuch kam«, sagte Dorit.
    »Er kam zu Besuch?« Ein Schauer lief mir über den Rücken.
    »Ja, er kam ins Viertel und ist dir gefolgt, wenn du in den Kindergarten gegangen bist. Anschließend hat er sich bei euch zu Hause ausgeruht, hat dich beobachtet, wie du aus dem Kindergarten zurückgekommen bist, und sich wieder aus dem Haus geschlichen. Übernachtet hat er bei Fejge.«
    Ich spürte Stiche auf meiner nackten Haut.
    »Erinnerst du dich, dass wir einmal aus dem Kindergarten weggelaufen sind, um deinen Vater zu suchen?«
    Ich nickte stumm.
    »An jenem Tag war er wirklich bei euch zu Hause«, fuhr Dorit fort. »Ich wusste von Fejge, dass du ihn nicht treffen durftest, damit du dich nicht bei ihm ansteckst und an Tuberkulose stirbst. Deshalb habe ich dich zur Krankenkassenambulanz gezogen, ich wollte dich retten.« Sie starrte auf den Boden. »Danach ist er nicht mehr gekommen«, sagte sie. »Deine Mutter hatte Angst, du würdest ihn entdecken. Sie hatte Angst, du könntest ihn umarmen und dich bei ihm anstecken. Das war das letzte Mal, dass er ins Viertel gekommen ist. Jahrelang hat Fejge mir vorgeworfen, dass er meinetwegen nicht mehr kommen konnte.« Dorits Stimme erstickte, sie schwieg einen Moment, bevor sie fortfuhr: »Du weißt bestimmt nicht, dass ich an manchen Tagen Fejge nichtbesuchen durfte. Meine Mutter erlaubte es mir nicht, weil dann dein Vater bei ihr übernachtete, ich hätte mich sonst anstecken können.«
    Ihre Worte schlugen wie Hagelkörner gegen mein

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