Das Schweigen meiner Mutter
meine Mutter tauchte auf, eilte in ihrem weißen Kittel zu einem der Nachbarn.
In meinem Kopf wirbelten Vergangenheit und Gegenwart durcheinander, nicht zusammengehörige Welten mischten sich. Ich schaute mich um und war zugleich acht Jahre alt und fünfundfünfzig.
Es dauerte lange, bis wir weitergingen.
Vor dem Eingang des Hauses, das einmal Dorits Haus gewesen war, blieben wir wieder stehen.
Dorit fotografierte das Haus, den Hof, die Treppe, die Tür und sogar die Fenster.
Mit jedem Klick blitzten in mir Momentaufnahmen der Vergangenheit auf. Ich sah meinen Hund, der hinter mir herlief, ich sah Chajale, die in einer Schlammpfütze den goldenen Ring mit einem Herzchen suchte, den sie verloren hatte, ich sah, wie sie untröstlich weinte, und ich sah Dr. Wollmann, der in seinem Sprechzimmer meiner Mutter gegenüber saß, Tee trank, sie anschaute und schwieg.
Als wir uns Chajale Finks Haus näherten, meinte ich, Gitl zu sehen, wie sie sich morgens auf den Weg nach Nord-Tel Aviv machte, um dort zu kochen und zu putzen, und wie sie abends mit ihrer blauen Plastiktasche voller Essen für ihre Ehemänner und ihre Tochter zurückkam. Brosamen aus dem Haus der Herrschaften, hatten die Leute gesagt. Ich sah auch Jissachar und Jona, wie sie im Hof saßen, an ihren stummen Radioapparaten herumschraubten, Glühbirnchen und Kabel herauslösten und wieder einsetzten.
»Komm doch zu uns,
kezele « ,
riefen sie, als sie entdeckten, wie ich sie durch die Hecke beobachtete, und ich wurde rot,weil sie mich ertappt hatten. Aber ich blieb. Ihre Stimmen umhüllten mich mit Wärme.
»Sie wird unser Geschäft noch erben«, hatte Jissachar einmal zu Jona gesagt oder Jona zu Jissachar. Er wusste ja nicht, dass ich andere Träume hatte, dass ich dort stand und hoffte, Chajales Mutter würde bald sterben.
Das Zusammentreffen mit den Toten erwärmte mein Herz. Ich versank in Nostalgie und erzählte Dorit, wie sehr ich mir gewünscht hatte, meine Mutter würde Jona und Jissachar heiraten, und wie ungerecht ich es fand, dass Chajale sogar einen Vater in Reserve hatte und ich überhaupt keinen. Ich erzählte ihr, dass ich mich großzügigerweise auch mit einem einzigen Fink zufriedengegeben hätte. »Nach Jonas Tod«, bekannte ich, »hatte ich Angst, an Chajales Haus vorbeizugehen. Ich dachte, meine Wünsche wären schuld gewesen an dem, was passiert war.«
Dorit lachte. »Was hast du bloß? Hast du vergessen, dass bei uns im Viertel der Tod nicht das Schlimmste war?« Ich lachte auch.
Ein aufgeregter Hund sprang aus seiner Hütte im Nachbarhof und bellte uns an. Ich wich mit einem Satz zurück.
»Früher haben auch die Hunde uns gekannt«, sagte ich zu Dorit. Dann fügte ich nach kurzem Schweigen hinzu: »Chajale habe ich schon seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«
Dorit reagierte nicht, ihr Blick wurde ausdruckslos und schweifte in die Ferne. Mir kam es vor, als wäre sie plötzlich weggetaucht, als wäre irgendein Schatten auf sie gefallen.
Sie trat auf Chajales Tor zu, fotografierte die Hofecke, in der Jona und Jissachar immer gearbeitet hatten, und steckte dann den Fotoapparat in die Tasche.
Wieder kam mir Chajale in den Sinn. Sie war die Einzige, die mir nie zugesetzt hatte, die mir nie Fragen gestellt hatte. Sie hatte bestimmt nichts gewusst – nichts von meinem Vater und nichts von meinen dunklen Wünschen. Sie war versunken in ihre Tanzerei und das Klavierspielen.
Bevor wir das Haus der Finks hinter uns ließen, streckte ich meinen Kopf noch einmal über die Hecke, starrte in den vertrauten Hof und atmete den grünen Duft der Blätter ein. Ich mobilisierte auch meine Vorstellungskraft, in meinem Kopf erklang Musik. Ich versank in einem Traum und meinte, das Klavierkonzert Nr. 1 von Chopin zu hören.
Mit den Klängen kamen die Geschichten zurück, die ich mir über meinen Vater ausgedacht hatte, und die Träume, die ich damals geträumt hatte, hüllten mich auch jetzt noch schützend ein, ein sonderbares Gefühl von Wohlbehagen umfing mich. Klare Luft strömte in meine Lungen, spendete mir Trost. Mir war, als wäre ich aus einem kalten, dunklen Ort in die warme Sonne getreten.
»Wow! Ich glaube es nicht! Alisa und Dorit sind ins Viertel zurückgekommen!« Brachas Stimme riss mich aus dem Gefühl des Wohlbehagens. Sie musste sofort aus dem Haus gestürzt sein, als sie uns vorbeilaufen sah. Sie wandte sich an mich. »Warum hast du mir nicht geantwortet? Ich habe den ganzen Morgen bei
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