Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lizzie Doron
Vom Netzwerk:
Trommelfell.
    »Was hatte er mit Fejge zu tun?«, stammelte ich.
    »Fejge hatte keine Kinder, die sich hätten anstecken können. Und außerdem fürchtete sie sich ebensowenig wie die anderen vor Krankheit und Tod. Sie mussten nur auf uns aufpassen, auf die Kinder, vor allem auf dich, immer haben sie über dich gesagt: das einzige Kind einer ausgelöschten Familie.« Ein Lächeln flog über ihr Gesicht, dann sprach sie wieder über meinen Vater, sie wollte das Geheimnis von damals loswerden, sie konnte sich nicht länger zurückhalten. »Was für ein bedauernswerter Mensch. Stell dir vor, morgens, wenn du zum Kindergarten gegangen bist, konnte er dich nur heimlich beobachten, verborgen hinter irgendeinem Gebüsch, durch den Zaun oder von der Straßenecke aus, dann musste er verschwinden. Ich denke, dass nur Fejge, Wladek und deine Mutter ihn getroffen haben   …« Plötzlich fing sie an, leise eine Liedzeile zu summen, als wüsste sie nicht, wie sie diese Geschichte beenden sollte: »Und er stieg in die Kutsche, sagte Hü zu den Pferden   …«.
    Mir war so heiß geworden, dass mir die Bluse auf der schweißnassen Haut klebte, ich hatte ein flaues Gefühl im Bauch und eine zugeschnürte Kehle.
    »Aber ich habe dieses Foto auch in meinem Album.« Das war alles, was ich herausbrachte.
    Mir waren die Worte verloren gegangen, Nebel hüllte jeden Gedanken ein.
    »Sieh es doch so: Endlich hast du einen Beweis dafür,dass du einen Vater hattest«, versuchte Dorit mich aufzumuntern.
    »Und er stieg in die Kutsche, sagte Hü zu den Pferden   …« Auch in meinem Kopf hatte sich die Liedzeile festgesetzt.
    »Du hast nichts gewusst?«, fragte Dorit und hob den Blick vom Boden. »Du hast wirklich nichts gewusst? Ich kann es nicht glauben.« Ich sah ihr an, wie erschrocken sie war.
    »Doch, ich hab’s gewusst«, murmelte ich. Dorits Worte hatten ein verschwommenes Wissen berührt, das mich mein Leben lang begleitet hatte, das mir niemand bestätigt hatte, das von allen geleugnet wurde. Ja, ich hatte es gewusst. Mir wurde heiß. Schließlich war ich damals losgezogen, um ihn zu suchen, als wäre ich mir gewiss gewesen, dass mein Vater in der Nähe war.
    Es war also nicht alles nur Einbildung gewesen, sagte ich mir, nicht alles nur ausgedacht, nicht alles nur zusammengeträumt. Aber warum musste ich das nun von Dorit erfahren, warum hatte meine Mutter es mir nicht gesagt? Ich berührte das Bild mit zitternder Hand, hob den Blick zum Himmel, Trauer erfüllte mich und das Gefühl, etwas versäumt zu haben.
     
    Der Abend wurde zur Nacht. Stille lag über dem Emek, der Rasenmäher war verstummt. Dorit begleitete mich zum Tor.
    »Übermorgen endet die Schiwa. Vielleicht kommst du mit mir zum Friedhof in Nachlat Jizchak, nur du und ich?«, fragte sie. »Aber wenn du nicht kommst, ist es auch in Ordnung.« Sie wurde rot. »Übermorgen bin ich um die Mittagszeit dort, also nur wenn es dir passt   …«
    Ich konnte ihr diesen Wunsch nicht abschlagen.
     
    Auf der Fahrt zurück nach Hause erschienen im Sternenlicht die Kibbuzim, Moschawim und Dörfer im Emek wie mit goldenen Fäden in die Landschaft gestickt. Durch das offene Autofenster wehte mir ein trockener Vorfrühlingswind ins Gesicht. Meine vor Schweiß feuchten Hände rutschten über das Lenkrad.
    Mein Vater war also gekommen, um mich zu sehen, und niemand hatte es mir gesagt. Ein heftiger Zorn ergriff mich.
    Ich war wütend auf Dorit und auf meine Mutter, auf sie und auf alle, die geschwiegen hatten. Der Schweiß brannte auf meiner Haut, und all die wehen Stellen meiner Kindheit schmerzten, der Trost, die Küsse und Umarmungen, die mir nie zuteil geworden waren.
    Plötzlich, nach Jahren, war es wieder da, dieses Würgen in der Kehle. Was habt ihr mir eigentlich ersparen wollen? Warum habt ihr mir nichts gesagt? Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass er lebt? Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass er gestorben ist? Was war da? Gab es vielleicht noch etwas anderes, ein dunkles Geheimnis, irgendeinen Wahnsinn? Das fragte ich Dorit, das fragte ich meine tote Mutter, das fragte ich auch mich selbst. Ich hatte das Gefühl, den Verstand zu verlieren.
     
    Auf der Küstenstraße stieg mir der Geruch des Meeres in die Nase, das Geräusch der Wellen und das Brausen des Nachtwinds drangen ins Auto.
    In meinen Schläfen hämmerte es, durch meinen Kopf schossen die erfundenen Geschichten, die Sehnsüchte, die Biographien, die ich mir ausgedacht hatte, um mich zu schützen, mich zu trösten,

Weitere Kostenlose Bücher