Das Schweigen meiner Mutter
nach kurzer Zeit war er an Dorits Seite.
Sie wechselte die Position, kam auf meine andere Seite. Zu dritt gingen wir weiter, ich in der Mitte, Aksam zu meiner Rechten, Dorit zu meiner Linken.
Aksam lenkte unsere Aufmerksamkeit auf einen Baum, dessen Zweige wild in alle Richtungen wuchsen.
»Das ist ein Zürgelbaum«, sagte er. »Die Muslime glauben, dass ein Zürgelbaumzweig, der Früchte trägt, böse Geister fernhält.« Bei dieser Gelegenheit erzählte er mir auch, dass er Tscherkesse war, und deutete auf sein Dorf oben auf dem nächsten Hügel.
Aksam sprach weiter über Bäume, über Eichen, über Pistazien-, Oliven-, Mandel- und Feigenbäume. »Komm gegen Ende des Monats noch einmal, dann wird alles in voller Blüte stehen«, lud er mich zu einem weiteren Besuch ein.
Ich lächelte höflich. Dorit ignorierte es.
Aksam trat zu Dorit, legte wieder die Hand auf ihre Schulter,Dorit wechselte wieder die Seite. Nun ging Aksam zu meiner Linken, Dorit zu meiner Rechten.
Ich fühlte mich unbehaglich, die Nachmittagsvorstellung im Kino passte besser zu Dorit und mir.
Oben auf dem Gipfel setzten wir uns auf einen Steinhaufen. Von dort aus schauten wir auf grüne Wäldchen, braune Felsen, rote Ziegeldächer, der Anblick der Landschaft mit all ihren Farbtönen nahm mich gefangen.
»Schön ist es hier«, sagte ich, um die Stille zu unterbrechen und ein Gespräch zu beginnen.
»Vielleicht ist es das, was dir fehlt«, sagte Dorit und reichte mir zu meiner Überraschung einen Zürgelbaumzweig.
Da saß ich nun, mit einem Zweig in der Hand wie eine Ziegenhirtin und mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen.
Dorit ritzte mit einem anderen Zweig Kreise in den Sand.
»Das Taschenmesserspiel«, erinnerte ich sie.
Sie reagierte nicht.
»Früher haben wir, wenn es geregnet hatte, einen Kreis in den nassen Sand gezogen und das Taschenmesserspiel gespielt, wir beide gegen alle anderen Kinder«, erzählte ich Aksam. »Dorit verstand es, genau zu zielen, sie schleuderte das Taschenmesser so in die feuchte Erde, dass immer der größte Kreisabschnitt uns gehörte. Dank ihr habe auch ich gewonnen.«
Aksam kannte das Taschenmesserspiel nicht, hörte aber aufmerksam zu. Dorit starrte weiter auf den Boden und ritzte einen Kreis nach dem anderen in den trockenen Sand.
Ihre monotonen Bewegungen, ihr Schweigen und Aksams verwirrende Anwesenheit machten mir klar, dass es höchste Zeit war, zu verschwinden.
Ich sah Ameisen aus der Erde hervorkrabbeln und über den Sand marschieren. In unserer Gegenwart gibt es keinen Platz für derlei Begegnungen, dachte ich. Ich fühlte mich in eine Szene meines früheren Lebens zurückversetzt.
Warum hatte sie mich eingeladen? Und warum hatte ich die Einladung angenommen?
Ich spürte, dass ich in ihren Geheimnissen herumtrampelte.
»Ich muss gehen«, verkündete ich in die Stille hinein.
Als wir uns auf den Rückweg machten, färbte die Sonne den Himmel in glühendes Orange und entzündete vor dem Einbruch der Dunkelheit ein Feuer am Horizont.
Dorit ging neben mir, Aksam hinter uns.
»Sag, wie geht es Itzik?«, erkundigte ich mich.
»Wie du weißt, ist er kein Dichter mehr. Nachdem er sich jahrelang selbst gesucht und das ganze Geld von Fejge verprasst hat, lebt er jetzt in Boston.«
»Weh, wie nur fällte die Axt des Satans den mächtgen, sturmgesättigten Stamm? Weh, wie nur wurde es erstickt, verbrannt, ermordet, unser Volk – vom Greis bis zum Jüngling?« Ich konnte mich nicht beherrschen, die Verse strömten aus mir heraus. Doch wieder erwähnte ich mit keinem Wort meinen Anteil an der Bloßstellung seines Gedichts. Dorit lächelte mich an. Die besten Freundinnen sagen sich alles, erinnerte ich mich und verstummte. Um meine Verwirrung zu verbergen, erinnerte ich Dorit dann daran, wie sehr Bracha und Siva in Itzik verliebt gewesen waren. Sie lächelte wieder.
»Weh, wie nur zerteilte das Schlachtmesser des Bösen das reine Opfer, das Lamm ohne Schuld …«, zitierte Dorit weitere Zeilen jenes Gedichts.
»Die Gedichte, die er in seiner Jugend geschrieben hat, sind bei mir in einer Kiste begraben«, sagte sie traurig, ihr Blick war leer. »Die Wahrheit ist, er hat nicht in dieses Land gepasst. Die Gedichte, die er damals an die Zeitungen schickte, hat niemand wirklich verstanden, und Fejge, die gegen meine Mutter ankämpfte, hat die Herrschaft über ihn übernommen. Sie hat sich aufgeführt, als wäre er ihr Sohn, sie hat ihn auf das Landwirtschaftsinternat geschickt,
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