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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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vor die Tür setzte; sie benötige Bedenkzeit.
    Erstaunlicherweise brauchte ich nur wenige Wochen, um die Konditionierung, die jede Liebe hinterlässt, wieder abzustreifen. Kaum wurde deiner Mutter jedoch klar, dass ich nicht mehr zu ihr zurückkommen würde, sie zu weit gegangen war, ihr Hinauswurf nicht den letzten Widerstand in mir gebrochen, sondern mich vielmehr an mich selbst erinnert hatte, brachte sie ihren Antrag auf das alleinige Sorgerecht ein. Der Beschluss nahm mir schließlich nicht nur alle Rechte als Vater, nein: ich durfte dich dazu kaum noch sehen. Und so lief ich von Pontius zu Pilatus, zum Jugendamt, zu den Sprechstunden bei Gericht, bis ich mir schließlich einen Anwalt nahm.
    Du kannst es in den Akten nachlesen, all mein vergebliches Bemühen. Ich wollte dir später einmal in die Augen schauen können und sagen, dass ich alles getan hatte, um dir den Vater zu erhalten. Und so schluckte ich meinen verbliebenen Stolz und kämpfte um dich, während ich mich fragte, wie deine Mutter, in den Worten des antiken Dichters, sternenkalt prangend die Qual ihrer Tochter ertragen konnte.
    Es waren drei qualvolle Jahre, in denen deine Mutter es nicht zu kümmern schien, dass du mich zusehends weniger von deinen fremden Betreuern unterscheiden konntest, dass du jedesmal den harschen Tonfall ihrer Stimme hören musstest, mitansahst, wie die Tür vor mir zugeschlagen wurde. Ich versuchte auf alle erdenklichen Arten ihr Vertrauen in mich als Vater zu erlangen, durch kleine und große Gesten: indem ich mich zu den unmöglichsten Zeiten für dich zur Verfügung stellte, freiwillig das doppelte dessen zahlte, was ich an Alimenten hätte zahlen müssen – sogar indem ich ihr zeigte, dass ich ihre eigentlichen Beweggründe verstünde…
    Doch die Gesprächsangebote, die ich ihr machte, schlug sie aus, und der Widerstand, den ich ihr leistete, bestärkte sie nur. Du solltest ihr Kind sein, ihres allein; deine bedingungslose Liebe verschaffte ihr endlich die Möglichkeit einer Hingabe, die sie sonst noch niemandem je zu erweisen vermocht hatte. Ihr ewig sinkender Selbstwert pegelte sich durch dich ein; in dem endlich überfließenden Wasser sah sie sich widergespiegelt als Mutter mit ihrem Kind , und dieses Bild durfte durch nichts mehr getrübt werden.
    Ah – wie platt sind sie, all diese Redensarten, die mir anfänglich noch Trost spendeten, weil sie einem vor Augen führen, dass man weder der erste noch der einzige ist, dem es so ergeht. Es sind Stehsätze, die nichts bewirken, Gemeinplätze, Säulenreste einer zertrümmerten Welt.
    Meine Kassiopeia ist deshalb ein bestürzendes Bild geworden; zur Strafe in die Stille versetzt, ihr Thron am Himmel gekippt, dem Spott ausgesetzt. Bleibt mir nur zu wünschen, dass irgendwann ein Perseus kommt, der dich, ihr Kind, vom Fels befreit, so wie auch Kim mich einmal in ihre Welt zu holen versuchte. Doch davon besitze ich nur noch das Notizbuch einer Reise.

ELF
    Dies ist aus jenem Heft, in dem ich einmal festhielt, was ich dachte, glaubte; die Aufzeichnungen meiner ersten Flucht.
     
    Beim Empfang kam ich neben ihr zu sitzen. Musiker brachten mit Hämmerchen ihre Xylophone zum Klingen; Tänzerinnen reckten weiß geschminkte Gesichter vor, Augen groß und schwarz umrandet, schlängelnde Arme, die uns hingestreckt und mit schneller Geste wieder zurückgezogen wurden.
    Sie beachtete mich nicht; stattdessen schlug sie eine Kladde auf und notierte sich etwas mit winziger Schrift. Erst in der Pause wechselten wir ein paar Worte und stellten uns vor. Ich war für drei Wochen auf Bali, um einen Katalog der Bilder von Walter Spies anzulegen, Kim, weil sie das Museum für diesen deutschen Künstler mitgeplant hatte.
    Am dritten Tag sah ich sie bereits überall: an einer Säule lehnen, aus einer Tür treten, mit ihren Sandalen über das Gelände laufen. Doch da war es längst schon zu spät: wir hatten einander gesehen, geschaut, was uns ein Schattenspiel offenbart hatte.
     
    Das eine Mal lud ich sie ein, das andere Mal sie mich; jedesmal aber verschwand sie mitten im Satz. Nichts, was wir ansprachen, führten wir auch zu Ende; weil ich dumm war, glaubte ich deshalb, wir hätten einander nichts zu sagen.
     
    Spätestens um zehn Uhr abends war die Stadt tot. Unsere Hotels lagen weit außerhalb, und ich marschierte jedesmal zu Fuß zurück durch das Viertel mit den Steinmetzen, die untertags Köpfe, Bäuche und Glieder von Göttern aus Basaltblöcken schlugen. Im Dunkel dachte ich an

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