Das schweigende Kind
die Frau, mit der ich lebte und wieder nicht, an unser Kind; und die Luftwurzeln der Banyanbäume mit ihren obszön roten Fäden streiften mir übers Gesicht.
Im Zimmer ließ ich das Licht aus, um die Stechmücken draußen zu halten, holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte mich an die Einfassung des in die Reisfelder gebauten Schwimmbeckens.
Kim hatte über ihrem rechten Knöchel vier Leberflecke. Sie sahen aus wie eine Tätowierung. Da war etwas, worüber es sich nicht reden ließ und was wir dennoch voneinander zu wissen schienen: als läge es uns auf der Zunge, ohne der Worte zu bedürfen. Und noch etwas: Kim roch wie eine eben aufgeschnittene Papaya.
Morgens dann machte ich jedesmal vergeblich den Umweg durch das Viertel mit den Steinmetzen, in der Hoffnung, Kim vorher, scheinbar zufällig, zu begegnen. Auf den Altären brannte Rauchwerk zwischen Frucht- und Blumenschalen, Bambusstangen mit schmalen Fahnen davor. Auf den ersten Blick schienen sie wie Angeln ohne Haken und Köder, oder wie Federn, mit denen man die Sohlen der Götter kitzelt, um sie zum Herabsteigen zu bewegen.
Spätestens um 10 Uhr waren wir bei der Arbeit und stolperten dauernd übereinander. Sie hängte und richtete das Licht ein, ich notierte und fotografierte. Es blieb bei halben Sätzen, nur dass sie nunmehr die andere Hälfte antippten. Schließlich ergriff ich die Gelegenheit. Auf meine Frage erwiderte sie, sie sei auf Java geboren, wohne jetzt aber in Paris. Dass wir in derselben Stadt lebten, schien fast zuviel der Vertrautheit.
Spätestens um 17 Uhr trennten wir uns, erneut so, als würden wir uns nicht kennen. Bis Mitternacht war es zu schwül, um zu schlafen, die Nacht laut vom Quaken, der Himmel schwärzer als das Wasser, in dem er sich spiegelte, der Mond eine aufgedampfte Silberschicht. Ich dachte immer öfter an Kim mit einem Verlangen, das so körperlos war wie der von den Furchen der Reisfelder aufsteigende Dunst.
Einmal traf ich sie im Privattempel eines verstorbenen Künstlers, den man den ›Dali von Bali‹ nannte, weil er dieselbe Art Schnurrbart und Zigarettenspitze affektiert hatte und ein ebenso großer Schürzenjäger gewesen war; nur seine Bilder waren noch greller. Um dem Anlass der Gedenkfeier zu entsprechen, stellte man seinen Malerstuhl, einen goldenen Thron, vor die Pagode. Dem Wunsch des Meisters gemäß wurden darauf von verschiedenen Honoratioren seine Gedichte verlesen, auf dass er ›auch jetzt unter uns weilen und uns mit der Schönheit seiner Gedanken erfreuen könnte‹.
Ich wanderte auf dem Anwesen herum und suchte Kim. Ich fand sie weder vor dem Foto des Meisters mit Michael Jackson, das dessen Unterschrift trug, noch vor dem Bogen am Treppenaufgang, um den sich dicke rote und goldene Linien schlangen und rankten – dem Prospekt zufolge der Welt größte Signatur. Schließlich begab ich mich zum Buffet, wo ich zwischen australischen Villenbesitzern und amerikanischen Flitterwöchnern stand.
Urplötzlich stand Kim neben mir. Ich wollte ihr erst die rechte Hand geben, mit der ich den Teller hielt, dann die linke mit dem Weinglas, und schluckte schließlich mit Mühe den letzten Bissen hinunter, um ihr zu sagen, dass sie heute Abend sehr schön sei. Das sei sie auch sonst, gab sie zur Antwort.
Bei der Veranstaltung, mit der das Museum schließlich inauguriert wurde, wiederholte sich alles: Gamelan und Buffet, Reden und Konversation.
Am nächsten Tag glaubte ich Kim längst fort. Mir selbst war keine Zeit geblieben, die Insel zu erkunden; um wenigstens etwas erzählen zu können, kaufte ich mir einen Reiseführer. An der Kasse bekam ich einen pinkfarbenen Notizblock Marke ›Periplus‹ gratis dazu.
Im Museum angekommen klopfte Kim mir von hinten auf die Schulter. Ich war so froh und überrascht, dass ich das auch sagte. Sie setzte sich auf eine Bank, zog die Beine an und spielte mit ihren Zehen.
Da sie mich unverwandt musterte, borgte ich mir ihren Stift und malte auf die erste Seite meines kleinen rosa Blocks: Kim Jung’s Notebook – Of Nighttime, Wide Awake, And Daybreak Thoughts.
Ich sah sie noch einmal in Jakarta, beim Umsteigen, von ferne, worauf ich in ein Internetcafé ging und ihr folgende Zeilen schrieb:
Die Liebe ist ein Gott, der einem auf der Schulter sitzt. Doch sobald er auf den Boden und laufen will, wird er so quengelig wie ein Kind. Sich zu wundern, weshalb er erscheint, ist so zwecklos wie die Frage, wo oder wem er sich zeigt. Ich
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