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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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mit ihr einzurichten, Bilder aufzuhängen, die ich noch nicht gemalt hatte, aber immer schon hatte malen wollen.
    Habe ich bei Kim diese Hoffnung geschürt, weil ihre bloße Anwesenheit meine Verzweiflungen erträglich machte? Worüber ich mich jedoch täuschte, war über mich selbst. Was da in mir am Wachsen war, brauchte Zeit – Zeit, in der sich alles wandelt, Zeit, in der auch wir beide zueinander gefunden haben würden.
    Ich wünschte, ich hätte mich wenigstens einmal als einheitliche Person empfinden können; stattdessen erschien mir mein Ich stets diffus, eine Substanz, deren Aggregatszustände wechseln, um einen Körper auszufüllen, einem Gas gleich, das sich bei Kälte als Wasser niederschlägt und dann brüchig wird wie Eis. Was meinem Ich als einziges Konstanz verlieh, war weder eine Liebe noch meine Arbeit, sondern du. Was immer mich sonst ausmachen mochte: wenn ich dich sah, wusste ich, wer ich war.

DREIZEHN
    In jeder Geschichte wiederholen sich tausend andere Geschichten; selbst jene, die wir für die eigene halten, weicht bloß geringfügig von dem ab, was vor uns bestand und uns bestimmt.
    Von sich zu sprechen, was bedeutet das schon? Nichts. Wenn man je etwas hören wollte, dann von den Göttern, so sie zu einem sprächen, von der Natur, so die schroffe Felswand eine Sprache hätte, dem Himmel, den sich darin auftürmenden Wolken, allem, was nun meinen Fensterrahmen hier ausfüllt, so belanglos fern, scheinbar. Wie vermessen deshalb zu glauben, ein Modell brächte irgendetwas davon zum Vorschein, verliehe den eigenen Vorstellungen Gestalt, könnte einem gar als Muse dienen.
    Nicht sie ist es, die man zeichnet; man wird von ihr gezeichnet. Alle Kunst ist letztlich nur eine Spielart der Notzucht: wenn die Musen einem etwas eingeben, dann indem sie über einen kommen, vereinnahmen und vergewaltigen, ihre Worte aus einem herauspressen. Und dafür schob ich noch Geld nach jeder Sitzung ins Cornet , einem zu einem spitzen Tütchen zusammengerollten Papier. Ich bezahlte sie dafür, dass sie stundenlang in einer Position verharrte, vermeintlich erstarrt in einem Augenblick ewigen Werdens, der doch bloß ein beliebiger Moment blieb.
    Das Schöne ist stets eine Täuschung: es bereinigt, glättet und zieht dort Linien, wo alles sich verschlingt und ineinander übergeht. Deshalb hätte ich auf meiner Seite bleiben sollen, im sicheren Rahmen der Sitzungen, in ein paar Metern Abstand: die gesetzten Grenzen respektieren, statt deiner Mutter zu nahe zu kommen, und sie mit anderen Augen betrachten als mit diesem gewaltsamen Blick für das Blinde, Taube, Stumme. Von dem deine Mutter noch viel weniger loskam, weil sie es spüren musste, um sich lebendig zu fühlen. Denn es waren Qualen, die sie von mir verlangte, in immer wieder anderen Choreographien. Lust hieß für sie, ihren ewigen Schmerz zu bezwingen. Doch wenn sie sich von mir erst an den Bettpfosten fesseln ließ, lieferte sie sich nur scheinbar aus, denn verfallen war ich ihr. Mit jedem Tropfen heißflüssigen Wachses auf ihrem Rücken rötete sich die Haut um diese Sternenmale; in mich aber brannte es sich ein.
    Ah, dieses Pathos; und wie viele Entsprechungen… doch was die verschiedenen Perspektiven auf die Liebe, die unterschiedlichen Ansichten eines Ichs miteinander verbindet, bleibt mir ein Enigma, das ich nicht zu lösen vermag. Ich sehe darin bloß eine Geometrie der Leere; Tod. Etwas, das mir so rätselhaft ist wie das Wort ›unverbrüchlich‹.
    Zumindest eines jedoch änderte sich nach dem Tag, an dem der Arzt uns endlich verkündete, dass die künstliche Befruchtung geglückt war. Während einer der nun regelmäßig erfolgenden Kontrollen an deiner Mutter ging ich in den Louvre und erblickte dort, gleichsam zum ersten Mal, Caravaggios Auferweckung des Lazarus . Ich sah das Drama, den sehnig ausgemergelten Körper in Kaskaden von aufleuchtenden Stoffen und Tüchern, Licht vom Dunkel geschieden, den davon ausgehenden Verwesungsgeruch, den seine Schwestern nur kraft ihrer Trauer ertragen; doch sobald der Brustkorb sich hebt, seine Lungen sich wieder füllen, wenige Sekunden nur nach dem von Caravaggio festgehaltenen Moment, werden sie seinen Atem wieder auf ihrem Gesicht spüren.
    Und so begann ich erneut, deine Mutter zu zeichnen, mit hungrigeren Augen denn je, schwarz auf weiß, Tusche auf Papier, diesmal jedoch ihren werdenden Körper, den sich erst rundenden, dann schwellenden Bauch. Sie nahm nun eine andere Mitte ein: sie rührte an rote

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