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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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Äpfel in einer Schale, die allzu nah an der Tischkante standen; an Brot, das gerade in Scheiben geschnitten worden war; einen auf den Nagel gehängten Mantel, der noch weiterzuschwingen schien; an halb geöffnete Türen, durch die man Bettpfosten, einen halben Rücken gewahrte.
    Mein Galerist wollte nichts davon haben; dennoch machte ich unbeirrt weiter, über deine Geburt hinaus. In der Not nahm ich zwar den Kopierauftrag an, zeichnete aber weiter wie unter Zwang: ich musste einfach aufnehmen, was ihr Gesicht ausdrückte, es war zu drängend, um es zu ignorieren. Und endlich, noch vor deinem ersten Geburtstag, und kurz vor dem Ende bereits, fühlte ich, dass ich soweit war, dass ich genug gelernt hatte.
    Diese letzte, allzu kurze Zeit zu dritt blieb ich dabei: nur die vier oder fünf Farben, die euch beiden gerade entsprachen, ohne jeden Vorwurf auf die Leinwand geworfen, jeweils nur den einen Tag daran arbeitend, um das festzuhalten, was ich sah und fühlte, hier und jetzt, in einem Gitter von Pinselstrichen und möglichen Linien, ohne das Gedächtnis oder die Imagination bemühen zu müssen. Das Unmögliche wollte ich einfangen, das Leben abbilden, jeder Punkt ein Wurf, ohne zu wissen, was man trifft, wie nahe man ihm kommt, diesem Unerreichbaren, deiner sich stets entziehenden Mutter. Euch anzusehen, deine Mutter, wie sie dich in ihren Armen wiegte, brach mein Leben auf.
    Der einzige, der es merkte, war Louis. Damals wanderten wir stundenlang durch Paris, spielten Schach, rauchten, tranken, sein Profil mit seiner scharfen Adlernase wie mit Silberstift gezeichnet… Ich habe noch den Zettel, auf den er mir schrieb:
     
    wieder das undurchdringliche belagernd, auge und hand nach unselbst fiebernd – die hand unaufhörlich das auge verändernd, das unabsehbar seinen blick wechselt – hin und her zwischen ausfallstoren – waffen ruhend im raum – dann, stillstand.

VIERZEHN
    Manchmal denke ich, die eigentliche Wahrheit zeigt sich erst in den Fratzen und Krakeleien, die ich abwesend an den Rand dieser Seiten kritzle.
    Angehalten von meinem Arzt, widme ich mich diesen von ihm abverlangten Aufzeichnungen. Er wirft meist nur schnell einen Blick auf die gerade angefangene Seite, um mich dann mit Belanglosigkeiten zu ermuntern, eine Übung, offenbar allein dafür gut, den mich Tag und Nacht peinigenden Gedanken Form zu verleihen. Sich auf meine Art von Wahrheit einlassen will er nicht; sie erscheint ihm offenbar zweitrangig, wenn nicht gar unwesentlich: ihm liegt vielmehr daran, dass ich meine Sätze um Bilder ordne, Konturlinien fortführe und sie zu einem Ganzen vereine, einem Profil. Dennoch irrlichtern sie weiter in meinem Kopf, entzünden mein Denken, sitzen wie Knochensplitter im Hirn.
    Wenn er mehr davon verstünde und seine Lehrmeinungen nicht so zur Schau stellen würde wie die Schmuckrücken seiner Bücher im Besprechungszimmer, dann wüsste er, dass er von mir damit genau jene Art von Allegorien einfordert, die ich bis zu meinem Zusammenbruch gemalt habe, im Dunkeln kreisend. An manchen Stellen scheint mir das vielleicht zu gelingen, obwohl ich den Kugelschreiber weit linkischer halte als einen Kohlestift oder die Rötelkreide. Allzu oft jedoch lenke ich bei diesen nunmehr zum dritten Mal kopierten, korrigierten und umformulierten Sätzen durch Bildsprünge und verschobene Metaphern von der einen Wahrheit ab: der Gewalt in mir.
    Der Sarkasmus, den deine Mutter mir oft genug vorgehalten hat, ist noch der mildeste Ausdruck davon, denn die Lust, das Fleisch von den Knochen zu schaben, ließ sich ja noch mit meiner ›Kunst‹ rechtfertigen. Der Vorwurf, ich wäre zynisch, war schon weniger einfach zu entkräften, da ich nichts von dem malen wollte, was unserer Zeit als ›Wert‹ galt, angesichts des Nichts, und deine Mutter sich zusehends mehr im Leeren gemalt sah, ihr die äußerlichen Ähnlichkeiten nicht mehr genügten, weil sie sich nun durch meine Bilder entblößt fühlte.
    Vor dem Fenster meines Zimmers liegt jetzt ein arktisches Wolkenfeld, Kluften darin wie Gletscherspalten, in den Rissen dahinter sichtbar die graue salzige Flut des Meeres, ein an der glasigen Sonne im Bruch begriffener Schelf, Schollen sich abspaltend davon, vorübertreibend, auf die Berge zu.
    ›Angesichts des Nichts‹ habe ich geschrieben, und erneut mittels dreier unscheinbarer Worte eine anmaßende Aussage zu verbergen versucht, die allzu leicht ins Gegenteil verkehrbar ist: denn in Anbetracht der Leere verlieren die Werte

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