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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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ihre Anführungszeichen und jedwede Scheinheiligkeit. Das jedoch verstand ich erst, als du zur Welt gekommen warst und ich dich an meine Brust drückte, dir leise vorsang und du mich arglos anlächeltest.
    Mir wurde bewusst, dass ich nur in dir auflebte, mehr als ich es bislang vermocht hatte, ja: dass ich weiterleben würde in dir. Es war ein Zustand der Unschuld, in den du mich versetzt hast. Er ließ all meine zuvor gehegten Bedenken unnötig erscheinen, Befürchtungen, die wohl jeder werdende Vater hat, wenn er sich nicht vorstellen kann, was mit einem Kind anfangen: den lieben langen Tag nur lalelu – bereits ein Blick in deine Augen genügte und wir verstanden uns sprachlos, dein Vertrauen bedingungslos und ich dir damit ausgeliefert.
    Deine Augen sahen in den ersten Wochen kaum ein Armlänge weit; das Blinde darin aber war nun in mir und bestimmte mich: um dich zu schützen, hätte ich mich ohne Zögern vor einen Zug geworfen, mein Leben für deines gegeben. Es ist eine Selbstlosigkeit, die ich zuvor nicht gekannt habe, eine Unschuld, die mich ausfüllt wie das sich in Kolken sammelnde Wasser in jenem Tal, zu dem wir unsere Ausflüge unternahmen.
    Dass ich diese Unschuld zu bewahren suchte, hat alle Schuld bedingt: als wäre sie so widernatürlich, dass sie um sich nur Blindwütigkeit hervorbringt. Eine andere Erklärung habe ich nicht angesichts der Gewalt, die immer wieder zwischen mir und deiner Mutter ausbrach.
    Ich will mich davon nicht ausnehmen. Trotz aller Schwäche bin ich stets geschickt darin gewesen, Unentschiedenheit und Nachgiebigkeit vorzutäuschen, war mein Masochismus oft auch manipulativ. Erbrachte ich ihn etwa nicht als Vorleistung, um aufgrund dessen dann eine Bringschuld erzwingen zu können? Ich gab immer schon dort klein bei, wo es mir wenig bedeutete, um damit zu erreichen, was ich wollte. Ließ ich deshalb nicht ab von meinen Vorstellungen einer Familie, den illusorischen Plänen eines Hauses, um damit die moralische Überlegenheit über deine Mutter zu gewinnen? Was sie dann umso aggressiver werden ließ. In der Unschuld liegt stets auch ein Anspruch auf Macht, in der Schwäche auch die Rechtfertigung für jedwede Rache.
    Umso mehr hast du mich überrascht, immer wieder. Wieviel Mitgefühl du hattest, während deine Mutter und ich nicht mehr dazu fähig waren. Wie tröstend du deine kleine Hand auf die blutende Wunde gelegt hast, die mir ein Ast am Arm aufgerissen hat. Oder wie zutraulich du dich Tieren gegenüber zeigtest, den Kühen und Pferden, Hasen und Hunden, während mir ihr Geruch und ihr Fell absonderlich fremd blieben, als ob sich der Tod so anfühle.
    Um ihn zu bannen, habe ich dir die nächste Konstellation gemalt – einen von den Verzierungen auf einem jahrtausendealten ehernen Schild entworfenen Kosmos: Erde und Meer, eine unermüdliche Sonne, der Mond in vollem Glanz und die Sterne, mit denen das Himmelsgewölbe sich krönt. Um den allem wehrenden Metallbuckel drehen der pfeilbewehrte Orion und die Bärin sich ewig weiter im Kreis, einander misstrauisch beäugend, auf dem Ringstreifen darunter eine Stadt, durch deren Gassen Frauen zur Hochzeit geführt werden, während man in einer anderen Gericht abhält…
    Die Farben strahlen in metallischem Glanz; es scheint der Entwurf von etwas Idealem. Wie also hätte ich es nicht als Omen auffassen sollen, das Alpha und Omega dieses Kosmos auch das deine? Ob du dieses Bild heute irgendwo in deiner Wohnung hängen hast? Die Mitte siehst, die ich darin gelassen habe, den unsichtbaren Pol, um den sich die zwei Sternbilder drehen? Dich darin erkennst?

FÜNFZEHN
    Jede Geschichte hat ihre Mitte in dem Punkt, in dem sie ins Gegenteil umschlägt; dennoch ist alles bereits im Anfang angelegt.
    Müsste ich den Moment benennen, an dem die Dinge ihre Kehrseite zeigten, wäre dies meine Rückkehr aus Indonesien. Die Katalogisierung eines mir fremd gebliebenen Malers abgeschlossen, wollte ich ebenfalls ein neues Kapitel beginnen.
    Die Unabhängigkeit, diese gleichsam selbstverständliche Unbeschwertheit, mit der mich Kim angezogen hatte, kannte ich auch von deiner Mutter – als Gefühl der Allmacht nach den vielen Versöhnungen unseres ewigen Streites, nachdem alles gesühnt und eine Liebe ohne Schmerz möglich wurde, unsere Münder jeden Zentimeter unserer Körper ableckend wie Katzen, die Finger die Vertiefungen nachtastend, dem Nassen und Weichen unter dem Fell, um erst genug voneinander zu bekommen, wenn wir der majestätischen

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