Das schweigende Kind
diesem Zustand der Unschuld vorstellte, von Mückenstichen übersät.
Glaubhaft schien eher, was er vom Krieg vor zwanzig Jahren berichtete, als serbische Freischärler mit Booten über den Fluss kamen und die Bauern umbrachten, die das sumpfige Land bestellten, zuerst Männer und Kinder, die Frauen zuletzt, jede Woche eine, wie es hieß. Erst nach der Schlacht von Vukovar war der Landstrich von unserem Militär wieder befreit worden: die nach dem Sturmangriff noch am Leben waren, sagte er, haben wir an die Bäume genagelt. Mehr Worte verlor er darüber nicht.
Auch meine Eltern nicht. Sie waren nie mehr zurückgekehrt, Vater die eigene Erinnerung ebenso sehr fürchtend wie die Verbitterung der kroatischen Nachbarn, Mutter das Gedächtnis an ihre Jugend ohnehin verdrängend. Nun jedoch von der Rückeroberung des Gutes erzählt zu bekommen, zu hören, dass alte Grenzen wiederhergestellt worden waren, erfüllte mich mit Genugtuung, mehr noch: dem Gefühl der Rache. Als wäre ihnen nun endlich Gerechtigkeit widerfahren und eine Vertreibung gesühnt, um die – je mehr sie stillgeschwiegen wurde – das Leben meiner Eltern gekreist war.
Eine Vertreibung, die sich auf mich übertragen hatte. Verleumdet und verjagt, missverstanden und missbraucht, sahen sie ihr Leben als etwas, das entgegen aller Widerstände verwirklicht werden wollte, weshalb sie mir die gleiche Hartnäckigkeit abverlangten. Unter ihrer Obhut groß zu werden hieß, sich um eine Anzahl von Verben herum zu artikulieren, essen, trinken, wohnen, sich anziehen. Ihre Armut war ein steter Anlass, zu handeln und sich um das zu kümmern, was gerade am dringlichsten schien; jedwede Beziehung baute deshalb auf einem Wenn-dann auf.
Dieser Katechismus aber führte mich ins Leere, in das beständige Gefühl eines Mangels an Nähe. Und nach dem Tod meines Vaters, der dem Krebsleiden meiner Mutter nur um ein Jahr vorausging, sah ich mich in einen Raum geworfen, in dem nichts mehr Gültigkeit beanspruchen konnte, als hätte ich mit ihrem Tod jeden wirklichen Bezug zu anderem verloren. Statt mich Stärke zu lehren, hatten sie meine Schwächen bloßgelegt.
Da es mir an Halt fehlte, hatte ich mich an ein Stipendium geklammert, das mich nach Paris brachte, und aus derselben inneren Unsicherheit dann an deine Mutter – ohne wahrhaben zu wollen, dass nichts auf mich wartete, nichts. Bis du zur Welt kamst und die Nähe zu dir mich zwang, alles neu zu überdenken, Stellung zu beziehen: was mir unendliche Möglichkeiten zu eröffnen schien. Weil ich jedoch von meinen Eltern gelernt hatte, nie aufzugeben, machte mich das zu einem schlechten Verlierer: ich hätte ablassen sollen, selbstgewiss, meiner und unserer Liebe sicher, dich aufgeben; ich hätte dich später sicherlich zurückgewonnen.
FÜNFUNDZWANZIG
Von welcher Seite ich meine Geschichte auch betrachte, sie spiegelt mich immer gleich; und doch muss ich auch ein anderer sein.
Etwas war zerbrochen, und nicht erst an diesem Tag. Meine Liebe zu Kim, der etwas Vergebliches anhaftete, meine Arbeit, die zur Bedeutungslosigkeit verkam, der Geburtsort meiner Familie, der mich in eine Geschichte führte, die keine Vergebung kannte, du, vor allem aber deine Mutter und all die Tage des Taktierens und Lavierens – sich darauf hinauszureden scheint im Nachhinein unglaubwürdig. Und doch ist es die einzige Erklärung für das, was sich binnen eines Moments Bahn brach, der Grund, weshalb ich am Ende in Milan mit seiner kruden Gewalttätigkeit einen Nothelfer sah. Als hätte er bereits stellvertretend Vergeltung für das Schicksal meiner Eltern geübt und würde nun auch meines auf sich nehmen, einer Erlösergestalt gleich.
Kim und ich standen mit dem Verleger bereits vor dem Auto, als ich mich entschuldigte und, jeden Zweifel verdrängend, noch einmal zurück ins Haus ging. Ich zog das Foto deiner Mutter aus der Geldtasche, das ich bis dahin nie herausgenommen hatte, schrieb ihre Adresse auf die Rückseite und drückte es Milan in die Hand.
Die Liebe zu seiner Tochter vor Augen, sagte ich zu ihm auf kroatisch einen Satz, den ich vor dir, meiner Tochter, jetzt nicht wiederholen will, wiederholen kann. Er hob nicht einmal die Brauen, als hätte er über mich immer schon alles gewusst; mein nachdrücklicher Tonfall überraschte ihn genauso wenig wie das Eingeständnis, dass ich seiner Sprache durchaus mächtig war. Wir wechselten einen langen Blick, den er mit einem unmerklichen Nicken zu quittieren schien.
Im Auto dann, meine
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