Das schweigende Kind
verflüssigte.
Erst als ich das Rot mit dem Handtuch abwischte, überkam mich ein Anflug von Angst; mein Atem ging immer schneller, Panik ergriff mich, als ich merkte, dass ich nass vor Lymphe war. Die Wunden begannen zu brennen; ich ließ das Messer fallen und drehte die Hähne auf, um die Badewanne zu füllen; ich wollte wieder sauber werden, mich ins Bett legen. Die verengten Gefäße öffneten sich, das Wasser färbte sich scharlachrot, als ich die Tür gehen hörte. Kim steckte den Kopf herein, ich sah zu ihr auf.
Ich kam mir unsäglich dumm und hilflos vor, während sie mich abtupfte. Alles war unbewusst vor sich gegangen, nicht Ausdruck irgendeines Todestriebs, eher ein Ritual, das mir eine seltsame Kraft verlieh, um mir über die Zeit davor und die Zeit danach hinwegzuhelfen – und nun hielt ich daran fest, umklammerte Kim und schlief in ihren Armen ein. Stechenden Schmerz spürte ich erst am Morgen, als ich mich wieder von ihr löste; die verschorften Wunden brachen auf, hinterließen auf ihrem Körper dunkle Striche, ein halb verwischtes Sgraffito, obszön auf ihrer makellosen Haut.
Unsere Tage waren gezählt; Kim setzte ihnen ein Ende – ich war gewogen und für zu schwer empfunden worden. Ich verstand sie nur zu gut. Kim hatte das Menetekel meines Lebens drei Jahre lang mitgetragen; und als ich es, um es ihr zu erleichtern, mit Gewalt zu beenden suchte, war ich ihr erst ungreifbar und schließlich unbegreiflich geworden.
Wir trennten uns bald darauf, ohne große Worte zu machen, ich befreit von der Last, ihr verbergen zu müssen, was mich hinunterzog in einen eisigen Atlantik, mir jeden Tag mehr Luft raubte. Vielleicht ist das Bild, das ich dir von ihr geben kann, deshalb so blass, weil ich mich immer noch weigere, all die in sie gesetzten und schließlich vergeblichen Hoffnungen weiter auszumalen. Oder weil wir uns letztlich fremd geblieben sind, denn im Grunde – da gab es nur dich. Ich weiß, was ich getan habe; doch ich werde nur stückweise damit fertig.
Mein Blutbad, sagt der Arzt, sei nichts Ungewöhnliches: »Es stellt ein selbst-destruktives Verhalten dar, mit dem sich der Körper durch endogene Opioide Ausweg aus einem dissoziativen Zustand verschafft.« Sic. Um nicht mehr die Welt durch ein dickes Rundglas zu betrachten und daran denken zu müssen, wie deine Mutter in den Saal gerollt wurde und man schließlich das Tuch über sie breitete. Vielleicht auch, um dir nahezukommen, wie der Arzt bei seiner Visite beiläufig meint, während er mich aus dem reichhaltigen Schatz von Maximen versorgt, den er sich zweifellos bei seinen Seminaren angehäuft hat.
Leichte Eitelkeit spielt dabei um seine Mundwinkel, als erwarte er sich von mir Lob ob seiner Bildung und all der Maximen, die er mir als Kopfzeilen verabreicht. Die schweren Dosierungen hingegen überlässt er lieber den Pflegern, die mir, statt Worte in den Mund zu legen, Tabletten in den Rachen schieben, um mich ruhigzustellen, und warten, bis ich sie heruntergeschluckt habe. Schock, Aufbegehren und Verleugnung und schließlich Distanzierung: von diesen Stadien bin ich im ersten verblieben.
Doch ich glaube, ich wusste bereits damals, dass meine Ritzungen einem Sühneopfer glichen, durch das man sich einmal die göttliche Erlaubnis für ein geplantes Vorhaben einholen konnte. Um bereits mit der Buße dafür zu beginnen.
SIEBENUNDZWANZIG
Das hier habe ich ebenfalls in einem meiner alten Hefte gefunden; die stenographierte Mitschrift einer alten Vorlesung:
Im Spiegel seines Ichs stehen dem Menschen die eigene Willensfreiheit und das persönliche Fatum als Kontrahenten gegenüber. Das Fatum ist zwar mächtiger als der freie Wille einzuschätzen, dennoch darf zweierlei nicht übersehen werden: Fatum nennt sich eine Kette von Ereignissen, die der Mensch schafft, sobald er handelt, Taten, die von ihm selbst bewusst oder unbewusst veranlasst wurden, nicht erst mit seiner Geburt, sondern vielleicht schon – wer kann hier entscheiden – von seinen Eltern und Voreltern.
Die Idee des freien Willes hingegen ist ein bloßes Abstraktum, um die Möglichkeit eines bewussten Handelns auszudrücken – während unser unbewusstes Handeln vom Fatum geleitet wird. Da sich das bewusste Handeln meist auf etwas richtet, das uns noch nicht klar vor Augen steht, schwindet damit letztlich die strenge Unterscheidung zwischen Fatum und freiem Willen: und beide Begriffe verbinden sich zur Idee der Individualität.
In der Willensfreiheit liegt für ein
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