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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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alles, was uns nicht umbringt…
    So nachvollziehbar dies in Anbetracht ihrer Geschichte sein mag, ist mir erst jetzt bewusst geworden, dass sie dadurch etwas an mich weitergaben, was mir zum Verhängnis wurde. Heißt Erziehung wirklich nur, die Widerstände, die man selbst zu überwinden gelernt hat, wieder für seine Kinder aufzubauen? Als wären sie das Einzige, was Halt verspricht. Weshalb sonst hätte ich mich in deine Mutter verliebt, um mich als Mensch wahrgenommen zu fühlen, in einer ewigen Wiederkehr des Gleichen befangen, aus der man sich schließlich nur gewaltsam zu befreien vermag?
    Die Reise mit Kim war davon noch unbelastet. Vor dem Treffen mit dem Verleger waren wir für ein paar Tage in den Osten Kroatiens gefahren, in jenen Teil Branaus – wie mein Vater sein Heimatland weiterhin ungebrochen nannte –, wo die schwäbische Türkei beim alten Esseg in die Kopatscher Au übergeht. Mit mir hatte meine Mutter stets lieber kroatisch gesprochen, obwohl sie meinem Vater gegenüber bei ihrem stark akzentuierten Deutsch blieb; und so fragte ich mich zum vormaligen Gut meiner Eltern durch. Was ich mir davon erhoffte, war ein Anknüpfungspunkt, etwas, das Teil meiner Geschichte war, ohne jedoch an ihr Anteil gehabt zu haben: so als vermöchten neue Gewissheiten einzig an Orten zu beginnen und nur kraft ihrer auch Wirkungsmacht zu gewinnen.
    Ein alter Förster, der mit dem Niklashof noch etwas verbinden konnte, wies uns den Weg. Am Ende einer Schotterstraße ließen wir das Auto stehen und folgten einem sich durch Eschen und Ulmen windenden Pfad. Den Erzählungen meiner Eltern nach, hatte ich mir ein vergessenes, vollständig vom Wald verschlungenes Dorf vorgestellt, die Flächen der Äcker und Felder aber waren noch klar zu erkennen, es breitete sich nur ein wenig buschiger Wildwuchs aus; die Armaturen und das Linoleum der zerstörten Häuser mit ihren Einschussreihen hingegen waren jüngeren Datums.
    Vom Gut meines Vaters oben auf der Hügelkuppe reichte der Blick weit über die Wipfel zu sich windenden Flussarmen, die zur Drau oder zur Donau führten, Wasser aufschimmernd zwischen Riedgras und Schilf; sie schnitten eine Insel aus dem Land, einem im allmählichen Untergang begriffenen Eden gleich. Wir standen im Licht dieses Vorabends, der sich golden über die Kronen und abgestorbenen Äste dieser Landschaft legte, welche für mich nur deshalb weniger fremd war als für Kim, weil ich in ihr einen Ursprung sah, eine verlorene Heimat, auf die sich noch ein letzter Blick erhaschen ließ. In einem der Häuser musste meine Mutter groß geworden sein, dort waren die Scheunen, wo ihre Brüder gearbeitet hatten, hier oben der herrschaftliche Bau, die abgeblätterten Tapeten des ›Musiksalons‹, an dessen Decke die Stukkatur um den verschwundenen Kronleuchter noch nicht vom Schimmel geschwärzt war, auf dem Boden der von den Ziegeln gesprungene Verputz. Auch die Weinstöcke waren noch da, die mein Vater vergeblich aufzuziehen versucht hatte, schwarze Holzknoten im hüfthohen Gras.
    Ich nahm Kim in den Arm, und sie legte ihren Kopf auf meine Schulter, geborgen wir beide, an einem Ort, der nunmehr uns zu gehören schien, über uns das ineinander gestaffelte V eines riesigen Schwarms von Gansvögeln, die nach Süden zogen, das Rauschen ihrer Flügel so laut, dass sich danach vollkommene Stille auf alles legte, die erst nach und nach rissig wurde und in sich zusammenfiel. Dann gingen wir durch den Ansitz, der sich über hundert Jahre im Besitz meiner Familie befunden hatte, ohne dass die Trostlosigkeit dieser Ruine mit den Salzrändern an den Mauern und den durch die Fenster wachsenden Roteichen ihrem Überdauern etwas genommen hätte; ich fand einen Knopf und eine verrostete Patronenhülse, die ich einsteckte. Die Knechtshäuser dagegen waren ausgeweidet, gestockte Flecken an den Wänden und am Boden, herausgerissene Installationen, zerschlagenes Glas und Plastikmüll.
    Wir übernachteten in einer Pension, wo das Wasser brackig aus dem Hahn rann und Mücken uns plagten. Der Wirt konnte uns mehr über das Anwesen erzählen, obschon vieles bloß Gerücht war. Früher hätte dort, meinte er, eine Sekte gelebt, die Besitz und Ehe ablehnte, alles miteinander teilte, auch die Frauen, sich im Paradies glaubte und nackt umhersprang – was er mit größtem Vergnügen noch weiter ausschmückte. Ich musste laut lachen, nicht einmal, weil das so ganz und gar nicht zu meinen Eltern gepasst hätte, sondern weil ich mir beide in

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