Das schweigende Kind
Pfad hinter dem Hauptgebäude den nun schneebedeckten Hügel hinaufgestapft, an dem Mühlstein vorbei, der als Vogelbad dient, ohne ihn wahrzunehmen? Doch dann war dieses Licht, das durch den Nachmittag und die grauen Buchenstämme drang, die Molasse des Steins rötlich aufleuchtend, runde Kiesel aneinandergepresst, grün sich auffiederndes Moos im Rauhen, die Kuhle voll schmelzendem Eis, das in diesem Streifen der Sonne blinkte. Und da fühlte ich, dass ich, gleich wie bedroht ich mich wähnte, plötzlich inmitten eines unaussprechlichen Glücks stand. Ich wanderte vom Gemäuer der alten Mühle hinein in den Tobel zum Bach, wie ich es jeden Tag tat, weit weg von all den Morgen, und verspürte jene Stärke, die sich ergibt, wenn man einwilligt in das, was ist, weil man es nicht mehr zu ändern vermag. Ich nahm meine Schwächen und Eigenarten hin, akzeptierte, dass ich allein war, und wusste, dass ich die Lügen nun Schicht um Schicht abtragen musste, damit unter gleißnerischen Farben die Wahrheit zum Vorschein kam.
Warum aber habe ich diesen abgeschliffenen und rissigen Mahlstein erst jetzt gesehen? Weil ich ihn auf die eine oder andere Art zu nehmen und diesen Berg hinaufzurollen habe? Oder weil mein Vater die Molasse, aus der er gehauen war, Herrgottsbeton genannt hat?
VIERUNDZWANZIG
Da ist zwar die Linierung dieser Blätter und die vorgegebene Folge von Subjekt, Prädikat und Objekt; dennoch laufen mir die Sätze über den Randstrich hinweg.
Molasse war auch die Geschichte meiner Eltern, das wenige, was ich davon erfuhr; ein Konglomerat aus Kies und Geröll, das allein von der Zeit zusammengehalten wurde. Mein Vater war ein Donauschwabe, dessen erste Ehe kinderlos geblieben war; gegen Ende des Krieges wurde er als Nazi-Kollaborateur an den Pranger gestellt und als Gutsherr enteignet. Seine Frau kam dabei um; wie, wollte er nie sagen – kam ich darauf zu sprechen, wich er aus, seine stets rastlosen Finger im Schoß verkrampfend.
Ihm war knapp die Flucht nach Deutschland gelungen, mitsamt der Knechtsfamilie seines Hofes, zu der meine spätere Mutter gehörte. Waren Titos Partisanen als Befreier aufgetreten, um den ganzen Landstrich brandschatzen zu können, erzählte mein Vater, behandelte man sie an ihrem süddeutschen Zufluchtsort, als hätten sie Aussatz. Wer rund um Freudenstadt einen Hof besaß, lebte wie eine Made im Speck; bettelnde Flüchtlinge dagegen wurden mit Hunden vom Gatter verjagt.
Da mein Vater als einziger einen deutschen Namen trug, legalisierte die Heirat mit meiner Mutter den Status dieser Gruppe von Kriegsvertriebenen. Dass es sich dabei um eine Zwangsehe gehandelt hat, glaube ich nicht: ungeachtet des großen Altersunterschiedes leuchten die Gesichter auf dem ergrauten Hochzeitsfoto, die stolzen Züge meiner Mutter, die für eine Knechtstochter ungewöhnlich fein waren, das scharfe Profil meines Vaters, der hingebungsvoll zu ihr aufsieht.
Keine Woche später fraß sich das Feuer in das Rathaus im Hintergrund, an allen Ecken angezündet von de Lattres Armee, die sich dafür rächte, dass hier das Führerhauptquartier für den Frankreichfeldzug errichtet worden war; Freudenstadt musste brennen, drei Tage lang, es gab kein Wasser mehr, man ließ nur Gülle zum Löschen und holte sich die Frauen, zu Hunderten. Meine Mutter aber spricht nur von dem Keller, in dem sie jahrelang lebten, während mein Vater erst reden wollte, wenn es um den Wiederaufbau der Stadt ging und inwieweit man dem alten Plan treu geblieben war.
Ich war ein Spätgeborener; ich lernte meinen Vater als alten Mann kennen, dem jedes Toben schnell zuviel wurde. Er war es, der die Familie zusammenhielt, auf seine patriarchalische Art gütig und zugleich meiner Mutter ergeben, deren Härte mir gegenüber aus der Armut resultierte, mit der sie groß geworden war. Meinen Vater aber machte sie sich hörig, indem sie ihm jene bedingungslose Hingabe abverlangte, die ihr der gerechte Preis für die Jugend erschien, die sie ihm zweifellos schenkte.
Liebe, wie ich als Kind lernte, wollte deshalb stets von beiden Seiten erworben sein: Lob gab es kaum, Geschenke wie ein Fahrrad oder meine ersten Malutensilien mussten zuvor durch schulische Leistungen abgegolten werden. Trotzdem empfand ich diese Strenge nie als ungerecht: obwohl ich mich in allem beweisen musste, war ich mir des Rückhalts meiner Familie immer sicher. Sie hätten es zwar nie so ausgedrückt, schon aus der ihnen eigenen Demut heraus, doch ihr elftes Gebot war, dass
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