Das Schwert der Vorsehung
außerstande, den Weg fortzusetzen. Offensichtlich wusste sie nicht, dass sie es mit einem Hexer zu tun hatte, nicht mit einem Menschen. Sie war zu jung, um zu wissen, was ein Hexer ist.
Das Mädchen – Geralt hatte schon erkannt, dass sie keine reinrassige Dryade war – blieb plötzlich stehen, wandte sich um. Er sah, wie ihr die Brüste heftig unter der Flickenjacke bebten, dass sie sich mit Mühe beherrschte, nicht durch den Mund zu atmen.
»Yeá.« Sie schaute ihn unwillig an. »Aeén esseáth Sidh?«
»Nein, ich bin kein Elf. Wie heißt du?«
»Braenn«, antwortete sie und ging weiter, nun aber langsameren Schrittes, ohne zu versuchen, ihm voranzugehen. Sie gingen nebeneinander, nahe. Er roch ihren Schweiß, den gewöhnlichen Schweiß eines jungen Mädchens. Der Schweiß von Dryaden hatte den Geruch von zwischen den Händen zerriebenen Weidenblättern.
»Und wie hast du vorher geheißen?«
Sie schaute ihn an, ihr Mund verzog sich plötzlich, er dachte, sie würde ihn schweigen heißen. Sie tat es nicht.
»Ich erinnere mich nicht«, sagte sie nach einer Weile. Er glaubte nicht, dass das die Wahrheit war.
Sie sah nicht älter als sechzehn aus, und sie konnte im Brokilon nicht länger als sechs, sieben Jahre sein – wäre sie früher hierhergeraten, als Kleinkind oder als Säugling, hätte er den Menschen in ihr nicht mehr erkannt. Blaue Augen und von Natur helles Haar kamen auch bei Dryaden vor. Kinder von Dryaden, die in rituellen Kontakten mit Elfen oder Menschen gezeugt worden waren, erbten die Körpermerkmale ausschließlich von der Mutter, und es waren durchweg Mädchen. Außerordentlich selten und in der Regel erst nach mehreren Generationen kam es aber vor, dass ein Kind mit den Augen oder dem Haar der anonymen männlichen Zelle geboren wurde. Doch Geralt war sicher, dass Braenn keinen Tropfen Dryadenblut in sich hatte. Übrigens hatte das keine besondere Bedeutung. Blut hin, Blut her, jetzt war sie eine Dryade.
»Und wie« – sie warf ihm einen schrägen Blick zu – »nennt man dich?«
»Gwynbleidd.«
Sie nickte. »Gehen wir also ... Gwynbleidd.«
Sie gingen langsamer als zuvor, aber noch immer schnell. Braenn kannte den Brokilon natürlich – wäre er allein gewesen, hätte Geralt weder das Tempo noch die richtige Richtung halten können. Braenn schlängelte sich durch die Barrieren von Dickicht auf gewundenen, verborgenen Pfaden, sie überwand Schluchten, indem sie gewandt wie auf einer Brücke über umgestürzte Baumstämme lief, kühn tappte sie durch das von Entengrütze grüne Wasser, das auf Sumpfböden stand, die zu betreten der Hexer nicht gewagt und die zu umgehen ihn Stunden, wenn nicht Tage gekostet hätte.
Nicht nur vor der Wildheit des Waldes bewahrte ihn Braenns Anwesenheit – es gab Stellen, wo die Dryade den Schritt verhielt und sehr vorsichtig ging, wobei sie mit dem Fuß den Pfad abtastete und ihn an der Hand hielt. Von den Fallen des Brokilon gingen Legenden – die Rede war von Gruben voller angespitzter Pfähle, von Selbstschüssen, von umstürzenden Bäumen, von dem schrecklichen »Igel« – einer stachelgespickten Kugel an einem Seil, die unverhofft herabfiel und den Pfad freifegte. Es gab auch Stellen, wo Braenn stehenblieb und melodisch pfiff, und aus dem Unterholz antworteten ihr Pfiffe. Es gab Stellen, wo sie mit einem Pfeil auf der Sehne stehenblieb, ihn schweigen hieß und angespannt wartete, bis etwas, das im Dickicht raschelte, sich entfernt hatte.
Obwohl sie rasch vorankamen, mussten sie übernachten. Braenn wählte den Ort zielsicher aus – auf einer kleinen Anhöhe, wohin der Temperaturunterschied Windstöße warmer Luft trug. Sie schliefen in trockenem Farnkraut, sehr dicht beieinander, nach Art der Dryaden. Mitten in der Nacht umarmte ihn Braenn, schmiegte sich an ihn. Weiter nichts. Er umarmte sie. Weiter nichts. Sie war eine Dryade. Es ging nur um Wärme.
Beim ersten Morgengrauen, fast noch im Dunkeln, machten sie sich wieder auf den Weg.
II
Sie überquerten einen Gürtel von locker bewaldeten Anhöhen, gingen auf gewundenen Pfaden durch kleine Talkessel voller Nebel, über ausgedehnte, mit hohem Gras bewachsene Lichtungen, durch Windbrüche.
Braenn blieb zum wer weiß wievielten Male stehen, ließ den Blick schweifen. Sie machte den Eindruck, als hätte sie den Weg verloren, doch Geralt wusste, dass das nicht sein konnte. Er nutzte jedoch die Marschpause und setzte sich auf einen umgestürzten Baumstamm.
Und da hörte er den Schrei.
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