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Das Schwert der Vorsehung

Das Schwert der Vorsehung

Titel: Das Schwert der Vorsehung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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betrachtete. Diesmal blieb er nicht gleichgültig.
    Der Bursche mochte vielleicht fünfzehn Jahre alt sein. Er lag auf dem Rücken, die Beine weit auseinander, auf seinem Munde war etwas wie eine erschrockene Grimasse erstarrt. Trotzdem wusste Geralt, dass der Junge auf der Stelle gestorben war, ohne zu leiden und wahrscheinlich sogar ohne zu wissen, dass er starb. Der Pfeil hatte ihn ins Auge getroffen, war tief in den Schädel gedrungen und im Hinterhauptbein stecken geblieben. Der Pfeil war mit gestreiften, gelb eingefärbten Schwingfedern eines Fasanenhuhns gefiedert. Der Schaft ragte über den Grasbüscheln empor.
    Geralt schaute sich um, fand schnell und mühelos, was er suchte. Einen zweiten, ebensolchen Pfeil, der im Stamm einer Föhre steckte, etwa sechs Schritt weiter hinten. Er wusste, was geschehen war. Der Junge hatte die Warnung nicht verstanden; als er das Schwirren und das Geräusch des auftreffenden Pfeiles gehört hatte, war er erschrocken und in die falsche Richtung gelaufen. Auf diejenige zu, die ihn geheißen hatte, stehenzubleiben und sofort zurückzugehen. Ein zischendes, giftiges, gefiedertes Schwirren, das kurze, trockene Geräusch der Pfeilspitze, die sich ins Holz bohrt. Keinen Schritt weiter, Mensch, hießen dieses Schwirren und dieser trockene Aufprall. Fort, Mensch, verschwinde sofort aus dem Brokilon. Du hast die ganze Welt erobert, Mensch, überall wimmelt es von deinesgleichen, überall bringst du mit, was du die neue Zeit nennst, die Ära der Veränderung, was du den Fortschritt nennst. Aber wir wollen hier weder dich noch deinen Fortschritt. Wir wünschen die Veränderungen nicht, die du bringst. Nichts wünschen wir, was du bringst. Ein Schwirren und ein trockener Aufschlag. Fort aus dem Brokilon!
    Fort aus dem Brokilon, dachte Geralt. Mensch. Egal, ob du fünfzehn Jahre als bist und wahnsinnig vor Angst durch den Wald stürzt, weil du den Heimweg nicht finden kannst. Egal, ob du siebzig Jahre alt bist und Reisig sammeln gehen musst, denn wenn du zu nichts mehr taugst, werden sie dich aus der Hütte jagen und dir nichts zu essen geben. Egal, ob du sechs Jahre als bist und dich die Blumen angelockt haben, die blau auf einer sonnenüberfluteten Lichtung blühen. Fort aus dem Brokilon! Ein Schwirren und ein trockener Aufschlag.
    Früher, dachte Geralt, haben sie, ehe sie den tödlichen Schuss abgaben, zweimal gewarnt. Sogar dreimal.
    Früher, dachte er und setzte seinen Weg fort. Früher.
    Nun ja, der Fortschritt.
    Der Wald sah nicht so aus, als habe er den schrecklichen Ruf verdient, den er hatte. Gewiss, er war fürchterlich wild und unwegsam, doch das war die gewöhnliche Beschwerlichkeit des Urwalds, wo jeder Lichtschimmer, jeder Sonnenstrahl, der durch die Kronen und die belaubten Äste der großen Bäume drang, sogleich von Dutzendenjunger Birken, Erlen und Weißbuchen genutzt wurde, von Brombeersträuchern, Wacholder und Farnkraut, die mit dem Gewirr ihrer Zweige die knirschende, lockere Decke von Mulm, trockenen Zweigen und den modernden Stämmen der ältesten Bäume überzogen, jener Bäume, die im Kampf unterlegen waren, ihr Leben zu Ende gelebt hatten. Doch das Dickicht schwieg nicht mit dem bedrohlichen, drückenden Schweigen, das besser zu diesem Ort gepasst hätte. Nein, der Brokilon lebte. Es surrten Insekten, kleine Eidechsen raschelten am Boden, buntglänzende Laufkäfer huschten vorbei, es glänzten die Tröpfchen auf den Netzen Tausender von Spinnen, Spechte hämmerten laut gegen die Baumstämme, Häher schrien.
    Der Brokilon lebte.
    Doch der Hexer ließ sich nicht irreführen. Er wusste, wo er war. Er hatte den Jungen mit dem Pfeil im Auge nicht vergessen. Zwischen Moder und Baumnadeln sah er manchmal weiße Knochen, auf denen rote Ameisen liefen.
    Er ging weiter, vorsichtig, aber rasch. Die Spuren waren frisch. Er rechnete damit, dass er es schaffen würde, dass er die vor ihm gehenden Menschen aufhalten und zurückbringen könnte. Er redete sich ein, es sei noch nicht zu spät.
    Es war zu spät.
    Den zweiten Leichnam hätte er nicht bemerkt, wäre nicht ein Sonnenreflex auf der Klinge des Kurzschwertes gewesen, das der Ermordete in der Hand hielt. Dieser war ein erwachsener Mann. Die einfache Kleidung von praktisch graubrauner Farbe deutete auf niedere Herkunft hin. Die Kleidung – abgesehen von den Blutflecken rings um die beiden aus der Brust ragenden Pfeile – war sauber und neu, es konnte also kein gewöhnlicher Bauer sein.
    Geralt schaute sich um und

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