Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
Zeiten, als diese alte Stadt noch voller Leben war, aus einem Stück gemeißelt worden war. Sie fragte sich, wie er wohl gewesen sein mochte, ob er ein freundlicher oder ein grausamer, ein junger oder alter Mann gewesen war.
Lokey landete auf den in Stein gemeißelten Trauben und plusterte sein schwarz glänzendes Gefieder auf, ehe er sich endgültig niederließ. Sie war froh, dass Lokey ihr an diesem so einsamen Ort Gesellschaft leisten würde.
Jillian streckte die Hand vor und zeichnete mit dem Finger die Buchstaben nach, aus denen sich der in den grauen Granit gemeißelte Namen zusammensetzte. »Was meinst du, Großvater, sind die Erzählungen wahr? Ich meine, wirklich wahr?«
»So hat man es mir beigebracht.«
»Dann wird er tatsächlich zu uns zurückkehren, aus dem Totenreich? Er wird wirklich von den Toten auferstehen?«
Sie sah über ihre Schulter. Ihr Großvater, der dicht hinter ihr stand, berührte das steinerne Monument ehrfürchtig mit der Hand, dann nickte er ernst.
»Ja, das wird er.«
»Dann werde ich ihn erwarten. Die Priesterin der Gebeine wird zugegen sein, um ihn bei seiner Rückkehr ins Leben willkommen zu heißen und ihm zu Diensten zu sein.«
Ihr Blick wanderte kurz hinüber zu der Staubfahne am Horizont, ehe sie ihn wieder auf das Grabmal richtete. »Aber bitte beeil dich«, beschwor sie den Toten, ehe sie – unter den wachsamen Blicken ihres Großvaters – mit ihren zierlichen Fingern über die erhabenen Buchstaben des Grabmals strich.
»Ohne dich kann ich die Träume nicht weitergeben«, wandte sich Jillian mit leiser Stimme an den in Stein gemeißelten Namen. »Bitte beeil dich, Richard Rahl, und kehre zu den Lebenden zurück.«
45
Niccis Pferd Sa’din trabte durch die menschenleere Stadt; das Geklapper seiner Hufe hallte auf dem harten Straßenpflaster durch die verlassenen Häuserschluchten wie ein einsamer, unerwidert verklingender Ruf. Viele der bunten Fensterläden standen offen, andere waren verschlossen, nicht wenige Häuser besaßen im ersten Stock winzige, die leeren Straßen überblickende Austritte, deren gusseiserne Geländer Türen mit fest zugezogenen Vorhängen sicherten. Es ging nicht der geringste Lufthauch, um die Beine der von ihrem Besitzer vor langer Zeit achtlos zurückgelassenen Männerhose in Bewegung zu versetzen, die Nicci auf einer zwischen den ersten Stockwerken zweier sich in der menschenleeren Gasse gegenüberstehender Häuser gespannten Leine hängen sah.
Die Stille war so bedrückend, dass sie fast etwas Bedrohliches hatte. Es war ein unheimliches Gefühl, in einer von ihrer Bevölkerung verlassenen Stadt zu sein, einer bloßen Hülle, die einst von Leben erfüllt, jetzt aber nur noch als äußere Form vorhanden war, die keinem Zweck mehr diente. Nicci fühlte sich ein wenig an den Anblick einer Leiche erinnert, die dem Leben noch nah, aber schon so reglos war, dass an der schrecklichen Wahrheit kein Zweifel mehr bestehen konnte. In diesem Zustand belassen, allein gelassen an der Schwelle zum endgültigen Untergang und ohne frisches Leben, würde sie schon bald der Vergessenheit anheimfallen.
Ab und zu konnte Nicci durch die schmalen Häuserlücken flüchtige Blicke auf die in dem felsigen Steilhang hoch oben auf dem gewaltigen Bergmassiv gelegene Burg der Zauberer erhaschen, ein riesiger, düsterer Gebäudekomplex, der einem Geier gleich nur darauf zu lauern schien, über die Überreste der verstummten Stadt herzufallen. Träge an der schieren zerklüfteten Felswand vorüberziehende Wolken verfingen sich an den Spitzen, Türmen und hohen Übergängen, die aus der Burg emporzuwachsen schienen. Das gewaltige Bauwerk bot einen so unheilvollen Anblick, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Sie wusste jedoch, dass es in Wahrheit kein düsterer Ort war, außerdem fühlte sie sich erleichtert, endlich am Ziel zu sein.
Eine langwierige und beschwerliche Reise war es gewesen von der Alten Welt bis hinauf nach Aydindril. Immer wieder hatte es Augenblicke gegeben, in denen sie befürchtete, den überall entlang ihrer Strecke anzutreffenden Truppen nicht mehr ausweichen zu können. Dann wieder hatte es Situationen gegeben, in denen sie für kurze Zeit ganz darin aufging, sie umzubringen, aber es waren so ungeheure Massen, dass sie sich keine realistische Hoffnung machen durfte, ihre Zahl merklich zu reduzieren. Es hatte sie wütend gemacht, nur wenig mehr als eine lästige Plage für sie sein zu können; aber ihr eigentliches Ziel war es, zu Richard
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