Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
verhalten, wenn ich mich fürchtete, meist stellte ich mir dann vor, ich sei an einem anderen Ort, einem Ort, an dem ich sicher war. Angesichts des hohen Blutverlusts und der ungewöhnlich langen Schlafphase im Anschluss an die Heilung, als er halbwegs wieder zu Kräften kam, könnte dieser Traum einen immer größeren Raum in seiner Fantasie eingenommen haben.«
»Und sich seines gesamten Denkens bemächtigt haben«, schloss Ann.
Nicci sah ihr in die Augen. »Das war auch meine Vermutung.«
»Und jetzt?«, fragte Zedd.
Nicci hob den Blick und starrte hinauf zu den schweren Eichenbalken, während sie nach Worten suchte. »Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ich bin keine Expertin in diesen Dingen, schließlich habe ich mein Leben nicht gerade als Heilerin verbracht. Vermutlich wisst Ihr sehr viel mehr über derartige Leiden als ich.«
Ann machte ein Gesicht, als sei sie erfreut, dieses Zugeständnis aus Niccis Mund zu hören. »Nun, wir neigen in der Tat dazu, dieser Einschätzung zuzustimmen.«
Nicci musterte die drei voller Misstrauen. »Und wo, glaubt Ihr, liegt sein Problem?«
»Nun ja«, begann Zedd, »wir sind noch nicht so weit, eine Reihe von Dingen ausschließen zu können, die …«
»Habt Ihr schon einmal an einen Betörungsbann gedacht?«, unterbrach Ann ihn und fixierte Nicci mit festem Blick, so wie sie es früher getan hatte, um Novizinnen erzittern zu lassen und sie zu dem Eingeständnis zu bewegen, sie hätten sich um ihre Pflichten gedrückt.
»Es ist mir in den Sinn gekommen«, antwortete sie, da sie keinen Grund sah, es abzustreiten. »Aber um sein Leben zu retten, musste ich den Bolzen mithilfe subtraktiver Magie entfernen. Ich fürchte, zu dem Zeitpunkt bin ich gar nicht auf die Idee gekommen, so sehr war ich in meiner Panik bemüht, zu verhindern, dass er stirbt. Gut, vielleicht hätte ich daran denken sollen, dass der Bolzen verzaubert sein könnte, aber ich habe es nicht getan. Und jetzt, wo er nicht länger existiert, lässt sich nicht mehr feststellen, ob es sich tatsächlich so verhielt, und selbst wenn: Ohne den Bolzen lässt sich ohnehin nichts mehr machen.«
Zedd wandte sich ab und rieb sich über das glatt rasierte Kinn. »Das dürfte die Dinge zweifellos erschweren.«
»Erschweren?«, ereiferte sich Nicci. »Ein solcher Bann lässt sich nicht einmal dann ohne weiteres aufheben, wenn man den Gegenstand noch hat, der das Opfer mit einer Betörung infiziert hat. Ohne ihn kann die Betörung nur von derselben Hexenmeisterin zurückgenommen werden, die sie ursprünglich bewirkt hat. Für die Heilung einer solchen Infektion ist unbedingt das Medium vonnöten, mit dessen Hilfe sie übertragen wurde.
Und das gilt auch nur dann, wenn man sicher weiß, dass es sich um einen Betörungsbann gehandelt hat; es könnte ja auch ganz etwas anderes sein. Aber was immer es auch gewesen sein mag – um es zu heilen, muss man die Ursache kennen.«
»Nicht unbedingt«, warf Ann ein, den Blick erneut auf Nicci gerichtet. »In diesem fortgeschrittenen Stadium steht die Ursache gar nicht mehr zur Debatte.«
Ein Zucken ging über Niccis Stirn. »Steht nicht mehr zur Debatte – was in aller Welt wollt Ihr damit sagen?«
»Wenn sich jemand einen Arm gebrochen hat, richtet man ihn und stützt ihn mit einer Schiene, aber man vergeudet keine Zeit damit, überall herumzufragen, wie der Betreffende sich den Arm gebrochen hat. Man muss handeln, um das Leiden zu kurieren; mit Reden ist nichts gewonnen.«
»Wir sind der Meinung, er braucht unsere Hilfe«, brachte Zedd in versöhnlicherem Tonfall vor. »Uns allen ist klar, dass die Dinge, von denen er ständig spricht, schlechterdings unmöglich sind. Als er anfangs davon sprach, er habe das Schwert der Wahrheit Shota überlassen, dachte ich noch, er hätte einfach nur eine ungeheuerliche Torheit begangen, mittlerweile jedoch ist mir klar geworden, dass er weder vorsätzlich gehandelt hat noch sich die wahre Tragweite seines Tuns so einfach begreifen lässt. Ich habe mit wütenden Vorhaltungen reagiert, wo ich hätte erkennen müssen, wie krank er ist, um mich dann vor diesem Hintergrund mit dem Thema zu befassen.«
Zedd schien entsetzliche Qualen zu leiden. Seine Sorge um seinen Enkelsohn stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
Unfähig, den schmerzhaften Ausdruck seiner Augen länger zu ertragen, senkte Nicci den Blick zum Boden. »Tut mir Leid, Zedd, aber ich wüsste nichts, was mir sinnvoll erschiene. Unglücklicherweise bin ich nicht der
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