Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
ihre Gefühle zu zeigen.
Ann stutzte; plötzlich fragte sie sich, woher genau es eigentlich kam, dass sie diese Überzeugung pflegte. Als sie noch Novizin war, hatte schließlich niemand Unterrichtsstunden abgehalten, in denen man eingetrichtert bekam: ›Falls du jemals zur Prälatin ernannt werden solltest, darfst du deine Gefühle niemals offen zeigen.‹ Mit Ausnahme von Missfallen natürlich. Eine gute Prälatin sollte imstande sein, die Knie ihres Gegenübers mit nicht mehr als einem scharfen Blick unkontrollierbar zum Zittern zu bringen – ein Lehrsatz, dessen Herkunft ihr nicht minder schleierhaft war, auch wenn sie stets den Bogen rausgehabt zu haben schien.
Aber vielleicht hatte der Plan des Schöpfers von Anfang an vorgesehen, dass sie eines Tages Prälatin werden sollte, weshalb Er ihr die entsprechende Veranlagung für dieses Amt mit auf den Weg gegeben hatte. Manchmal vermisste sie es doch sehr.
Mehr noch, sie hatte es sich nie gestattet, sich ihre Gefühle für Nathan bewusst einzugestehen. Er war ein Prophet, und während ihrer Zeit als Prälatin der Schwestern des Lichts und unumschränkte Autorität im Palast der Propheten war er ihr Gefangener gewesen. Obschon sie es damals in dem Bemühen, der Situation einen humaneren Anstrich zu geben, etwas beschönigender formuliert hatten, war es nie komplizierter gewesen, denn nach allgemeiner Überzeugung galt es einfach als zu gefährlich, einen Propheten unter ganz normalen Menschen frei herumlaufen zu lassen.
Seine Einkerkerung von klein auf kam einer Absage an den freien Willen gleich, denn damit galt als vorab festgelegt, dass er ohnehin nur Unheil anrichten würde, selbst wenn er nie Gelegenheit erhalten würde, sich bewusst für diese seine Handlungsweise zu entscheiden. Sie hatten ihn für schuldig befunden, ohne dass er je ein Verbrechen begangen hatte – und dieser veralteten und irrationalen Denkweise war Ann den größten Teil ihres Lebens treu geblieben, ohne sie jemals zu hinterfragen. Wenn sie darüber nachdachte, beschlich sie bisweilen ein ungutes Gefühl, was das wohl über sie aussagte.
Jetzt, da sie und Nathan alt und wieder vereint waren – so unwahrscheinlich dies zu einer anderen Zeit auch erschienen sein mochte -, ließ sich ihr Verhältnis jedoch kaum als überschwängliche gegenseitige Zuneigung bezeichnen. Vielmehr hatte sie den weitaus größten Teil ihres Lebens damit verbracht, ihren Unmut über die Scherze dieses Mannes zu ertragen und dafür zu sorgen, dass er weder seinem Halsring noch seinem Gefängnis im Palast entkommen konnte, was ihr Widerspenstigkeit seinerseits sowie den Zorn der Schwestern eingetragen hatte und ihn – eine weitere Schleife im immer gleichen Teufelskreis – noch renitenter gemacht hatte.
Ungeachtet der Unruhe, die er scheinbar nach Belieben zu stiften vermochte, irgendetwas an ihm hatte Ann im Stillen stets über ihn schmunzeln lassen. Mitunter benahm er sich wie ein kleines Kind, ein Kind von fast eintausend Jahren, das ein Zauberer war und die Gabe der Prophezeiung besaß. Ein Prophet brauchte nur den Mund aufzumachen, brauchte die ungebildeten Massen nur mit Prophezeiungen zu bedienen, um im günstigsten Falle einen Aufstand, im ungünstigsten Kriege auszulösen. Das zumindest war die allgemeine Befürchtung.
Obwohl sie hungrig war, schob Ann den Teller mit Käse und Obst zur Seite. Das konnte warten. Die gespannte Erwartung, welche Neuigkeiten Vernas Nachricht wohl enthalten mochte, beschleunigte ihren Puls.
Ann setzte sich und zog ihren Stuhl ganz nah an den hölzernen Tisch heran. Dann holte sie das kleine ledergebundene Reisebuch hervor und ließ die Seiten am Daumen vorbeilaufen, bis sie die Handschrift erblickte. Die Kammer war eng, die Beleuchtung schlecht. Sie kniff die Augen zusammen, um die Worte besser entziffern zu können, und schließlich musste sie die dicke Kerze etwas näher zu sich heranziehen.
Meine verehrteste Ann, begann die von Verna in dem Buch niedergeschriebene Nachricht, ich hoffe, dies erreicht Euch und den Propheten bei guter Gesundheit. Ich weiß, Ihr sagtet, Nathan sei im Begriff, einen wertvollen Beitrag zugunsten unserer Sache zu liefern, trotzdem erfüllt mich Euer Zusammensein mit diesem Mann nach wie vor mit Sorge. Ich hoffe, seine Mitarbeit hat, seit ich zuletzt von Euch hörte, keinen Anlass zu Verdruss gegeben, und Ihr lasst Vorsicht walten. Ich habe den Propheten zu keiner Zeit wirklich ernsthaft erlebt – erst recht nicht, wenn ein Schmunzeln
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