Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
über seine Lippen spielt!
Ann musste selbst schmunzeln. Sie verstand nur zu gut, nur kannte Verna ihn eben nicht so gut wie sie. Manchmal konnte er einen schneller in Schwierigkeiten bringen als zehn junge Burschen mit nichts als Unfug im Kopf, und doch gab es jetzt, da alles gesagt und getan war und sie ihn schon so viele Jahrhunderte kannte, eigentlich niemanden, mit dem sie mehr verband.
Ann stieß einen Seufzer aus und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Nachricht in ihrem Reisebuch zu.
Die Abwehr der Belagerung der nach D’Hara hineinführenden Pässe durch Jagangs Truppen hat uns ziemlich auf Trab gehalten, schrieb Verna, aber wenigstens waren wir erfolgreich. Vielleicht zu erfolgreich. Wenn Euch dies erreicht, Prälatin, antwortet bitte.
Ann runzelte die Stirn. Wie konnte man zu erfolgreich dabei sein, marodierende Truppen am Überrennen der eigenen Verteidigungsstellungen, am Niedermetzeln der Verteidiger und der Versklavung eines in Freiheit lebenden Volkes zu hindern? Beunruhigt zog sie die Kerze näher heran. Tatsächlich war sie eher nervös, was Jagang jetzt, da der Winter vorbei war und der Morast des Frühlings hinter ihnen lag, im Schilde führen mochte.
Der Traumwandler war ein geduldiger Gegner. Seine Soldaten stammten tief unten aus dem Süden, aus der Alten Welt, und waren die strengen Winter hoch oben im Norden der Neuen Welt nicht gewöhnt. Nicht wenige waren den harten Witterungsbedingungen zum Opfer gefallen, eine weitaus größere Zahl jedoch war elend an den Krankheiten zugrunde gegangen, die sein Winterlager heimgesucht hatten. Trotz der großen im Kampf, durch Krankheit sowie eine Vielzahl anderer Ursachen erlittenen Verluste strömten die Invasoren unablässig in immer größeren Scharen nach Norden, sodass Jagangs Armee allen Widrigkeiten zum Trotz unaufhaltsam immer weiter anschwoll. Dessen ungeachtet opferte er keinen seiner unzähligen Soldaten in ebenso sinn- wie aussichtslosen Winterfeldzügen. Nicht dass ihm viel am Leben seiner Soldaten gelegen hätte, wohl aber lag ihm sehr viel an der Eroberung der Neuen Welt, weshalb er seine Truppen nur bewegte, wenn das Wetter günstig war. Jagang vermied es stets, unnötige Risiken einzugehen. Was zählte, war allein die Unterwerfung der Welt, nicht, wie viel Zeit dies kostete. Er betrachtete die Welt des Lebendigen durch das Prisma der Glaubensüberzeugungen der Bruderschaft der Ordnung. Das Leben des Einzelnen, sein eigenes eingeschlossen, war ohne Belang; was zählte, war allein, welchen Beitrag das individuelle Leben zum Erfolg des Ordens zu leisten vermochte.
Jetzt, da diese gewaltige Armee in der Neuen Welt stand, waren die Streitkräfte des d’Haranischen Reiches den nächsten Schachzügen des Traumwandlers auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Gewiss, auch D’Hara verfügte über eine formidable Streitmacht, die aber gewiss nicht reichen würde, um der vollen Angriffswucht der anscheinend unerschöpflichen Massen der Truppen der Imperialen Ordnung standzuhalten, geschweige denn sie zurückzuwerfen. Zumindest nicht, solange Richard nicht alles in seiner Macht Stehende tat, um das Blatt in diesem Krieg zu wenden.
Die Prophezeiungen bezeichneten Richard als »Kiesel im Teich«, womit gemeint war, dass er jene Wellen schlug, die alles durchdrangen, alles beeinflussten. Weiterhin war dort, auf unterschiedlichste Weise und in einer Vielzahl verschiedener Texte, die Rede davon, dass sie nur dann eine Chance hätten, den Sieg davonzutragen, wenn Richard sie in der entscheidenden Schlacht anführte.
Für den Fall, dass es nicht dazu käme, waren die Prophezeiungen klar und unmissverständlich: Dann, so hieß es dort, sei alles verloren.
Ann presste ihre geballte Faust gegen das schmerzhafte Gefühl von Übelkeit auf ihre Magengrube und zog den Stift aus dem Rücken des Buches, das ein genaues Gegenstück zu dem in Vernas Besitz war.
Deine Nachricht hat mich erreicht, Verna, schrieb sie, aber Prälatin bist jetzt du. Der Prophet und ich sind längst tot und begraben.
Es war ein Täuschungsmanöver, das die beiden in die Lage versetzt hatte, eine Vielzahl von Menschenleben zu retten. Es gab Zeiten, da vermisste es Ann, Prälatin zu sein, da vermisste sie die Schar ihrer Ordensschwestern. Vielen von ihnen war sie von Herzen zugetan gewesen, zumindest jenen, die sich später nicht als Schwestern der Finsternis entpuppt hatten, und der bohrende Schmerz dieses Verrats – nicht nur an ihrer Person, sondern auch am Schöpfer selbst
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