Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
– hatte noch immer nichts von seiner Heftigkeit verloren.
Immerhin, die Befreiung von dieser übergroßen Verantwortung versetzte sie in die Lage, sich mehr auf andere, wichtigere Dinge zu konzentrieren. So schmerzlich der Verlust ihres alten Lebens für sie sein mochte, in dem sie den Palast der Propheten als Prälatin geleitet hatte, ihre Berufung galt einem höheren Ziel und nicht irgendeinem Gemäuer oder der Verwaltung eines ganzen Palasts voller Ordensschwestern, Novizinnen und jungen, in der Ausbildung befindlichen Zauberern. Ihre wahre Berufung galt dem Erhalt der Welt des Lebendigen, und zu diesem Zweck war es allemal besser, wenn die Schwestern des Lichts sowie alle anderen auch sie und Nathan für tot hielten.
Ann richtete sich erwartungsvoll auf, als sich Vernas Handschrift auf der Seite abzuzeichnen begann.
Ann, es ist mir ein Trost, Euch wieder bei mir zu wissen, wenn auch nur über das Reisebuch. Nur noch so wenige von uns sind übrig. Ich gestehe, manchmal sehne ich mich nach den friedlichen Zeiten im Palast zurück, jenen Zeiten, als alles so viel einfacher und sinnvoller schien und ich nur glaubte, es sei so schwierig. Seit Richards Geburt hat sich die Welt unzweifelhaft verändert.
Dem mochte Ann nicht widersprechen. Sie ließ einen Käsehappen in ihrem Mund verschwinden, beugte sich vor und begann zu schreiben.
Jeden Tag bete ich dafür, dass diese Ordnung, dieser Friede, in der Welt wieder Einzug halten möge und wir uns über nichts Schlimmeres als das Wetter beklagen müssen.
Ich bin verwirrt, Verna. Was meintest du, als du schriebst, ihr wärt bei der Verteidigung der Pässe möglicherweise zu erfolgreich gewesen? Bitte erklär es mir. Ich erwarte deine Antwort.
Ann lehnte sich auf ihrem einfachen Holzstuhl zurück und aß ein Stück Birne, während sie wartete. Da ihr Reisebuch das genaue Gegenstück zu dem von Verna war, erschien alles, was in das eine geschrieben wurde, exakt zur gleichen Zeit im anderen. Es war einer der wenigen magischen Gegenstände, die aus dem Palast der Propheten hatten gerettet werden können.
Wieder begann Vernas schnörkelige Handschrift, sich über die leere Seite auszubreiten. Wie unsere Späher und Fährtenleser berichten, hat Jagang mit dem Abmarsch seiner Truppen begonnen. Da er am Pass nicht durchbrechen konnte, hat der Kaiser seine Streitmacht aufgeteilt und führt nun eine Armee nach Süden – ein Schachzug, den General Meiffert schon seit längerem befürchtet hatte.
Seine Strategie ist unschwer zu erraten. Zweifellos plant Jagang, eine mächtige Unterabteilung seiner Truppen durch das Tal des Flusses Kern und anschließend nach Süden um das Gebirge herumzuführen. Sobald er sämtliche Hindernisse umgangen hat, wird er in den südlichen Teil D’Haras abschwenken und von dort weiter Richtung Norden vorrücken.
Für uns bedeutet dies die denkbar schlechtesten Nachrichten. Zum einen dürfen wir die Sicherung der Pässe auf keinen Fall vernachlässigen – nicht, solange ein Teil seiner Armee auf der anderen Seite auf der Lauer liegt. Andererseits können wir aber auch nicht zulassen, dass Jagangs Truppen uns von Süden her umgehen. Nach Ansicht General Meifferts werden wir ein ausreichendes Truppenkontingent zur Bewachung der Pässe hier zurücklassen müssen, während die Hauptmacht unserer Truppen nach Süden marschiert, um sich den Invasoren entgegenzuwerfen.
Wir haben keine Wahl. Jetzt, da die eine Hälfte der Truppen Jagangs im Norden, auf der anderen Seite des Passes, steht, die andere Hälfte jedoch das Gebirge umgeht, um von Süden her vorzurücken, gerät der Palast des Volkes mitten zwischen sie – eine Aussicht, bei der sich Jagang zweifellos bereits die Lippen leckt.
Ich fürchte, Ann, mir bleibt nicht mehr viel Zeit. Das gesamte Feldlager ist in Aufruhr. Die Nachricht, dass Jagang seine Streitmacht geteilt hat, hat uns eben erst erreicht; wir sind dabei, auf schnellstem Wege unser Lager abzubrechen und uns Richtung Süden in Marsch zu setzen.
Zudem werde ich die Schwestern aufteilen müssen, auch wenn es aufgrund der großen Verluste kaum noch welche aufzuteilen gibt. Manchmal komme ich mir vor, als lägen wir im Wettstreit mit Jagang, auf wessen Seite zuletzt noch Schwestern übrig sind. Ich bin in tiefer Sorge, was aus all den Menschen wird, falls niemand von uns überleben sollte. Ohne diese entmutigenden Ängste würde ich zufrieden meinen Abschied aus dieser Welt nehmen und mich zu Warren in der Welt der Seelen
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