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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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das Kinn erraten, indem ich mir die Taille ansehe, insbesondere bei Männern, denn dort liegt für mich der größte Reiz. Eine schmale Taille bedeutet ein spitzes Kinn, und diese Ledermaske gewährt gerade genügend Einblick, um das erkennen zu können. Auch wenn deine Augen tief sitzen, so sind sie doch groß und lebhaft, was wiederum bedeutet, daß das Kinn ein Grübchen hat, insbesondere wenn das Gesicht schmal ist. Du hast hohe Wangenknochen – das kann man an der Maske ein bißchen sehen –, und durch die flachen Wangen wirken sie noch höher. Dein Haar ist schwarz, wie ich auf deinem Handrücken sehe, und durch die Mundöffnung der Maske sind schmale Lippen zu erkennen. Ich kann sie zwar nicht ganz sehen, aber sie sind ein wenig geschürzt, was bei einem Männermund höchst wünschenswert ist.«
    Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, und offengestanden hätte ich viel darum gegeben, mich auf der Stelle davonmachen zu können; schließlich fragte ich: »Soll ich die Maske abnehmen, damit du die Richtigkeit deiner Feststellung nachprüfen kannst?«
    »O nein, nicht nötig. Nicht bevor die Aubade gespielt wird. Außerdem solltest du auf meine Gefühle Rücksicht nehmen. Nähmst du sie ab und wärst du doch kein hübscher Mann, entginge mir eine lustvolle Nacht.« Sie hatte sich aufgesetzt. Nun legte sie sich lächelnd wieder auf dem Diwan zurück, so daß sich ihre Haare wie eine dunkle Aureole ausbreiteten. »Nein, Severian. Nicht dein Gesicht, sondern deinen Geist sollst du mir offenbaren. Das wirst du nachher tun, indem du mir zeigst, was du mir zeigen würdest, dürftest du alles tun, was dein Herz begehrte, und zunächst, indem du mir alles sagst, was ich über dich wissen will. Du kommst aus Nessus – soviel habe ich schon in Erfahrung gebracht. Warum bist du so darauf erpicht, die Pelerinen zu finden?«

 
Die Bibliothek der Zitadelle
     
    Als ich ihr gerade darauf antworten wollte, spazierte ein Paar an unserem Alkoven vorüber, der Mann in einen Sanbenito gehüllt, die Dame als Midinette verkleidet. Sie warfen uns beim Vorbeigehen nur einen flüchtigen Blick zu, aber irgend etwas – vielleicht die zusammengesteckten Köpfe oder ein Ausdruck in ihren Augen – verriet mir, daß sie wüßten oder zumindest vermuteten, daß meine Aufmachung kein Kostüm sei. Allerdings tat ich so, als wäre nichts, und sagte: »Mir ist zufällig etwas in die Hände gekommen, das den Pelerinen gehört. Das will ich ihnen zurückgeben.«
    »Du gedenkst also nicht, ihnen Unheil zuzufügen?« wollte Cyriaca wissen. »Kannst du mir sagen, worum es sich handelt?«
    Ich wagte es nicht, ihr die Wahrheit einzugestehen, wußte aber, daß sie mich bäte, ihr zu zeigen, was ich angäbe, also erklärte ich: »Ein Buch – ein altes, wunderschön illustriertes Buch. Ich will zwar nicht behaupten, von Büchern etwas zu verstehen, aber ich wette, es ist von großer religiöser Bedeutung und von hohem Wert.« Währenddessen zog ich aus meiner Gürteltasche das braune Buch aus Meister Ultans Bibliothek, das ich aus Theclas Zelle mitgenommen hatte.
    »Alt, ja«, meinte Cyriaca, »und hat mehr als ein paar Wasserflecken abbekommen, wie man sieht. Darf ich’s mir anschauen?«
    Ich reichte es ihr, und sie durchblätterte es bis zu einer Stelle mit einem Bild der Sikinnis, das sie so hoch hielt, daß der Schein einer Lampe, die in einer Nische über unserem Diwan brannte, darauf fiel. Die gehörnten Männer tanzten schier im flackernden Licht, die Syphen schienen sich zu winden.
    »Auch ich verstehe nichts von Büchern«, erklärte sie, als sie’s mir zurückgab. »Aber ich habe einen Onkel, der kennt sich damit aus und würde wohl recht viel dafür zahlen. Ich wünschte, er wäre heut’ abend hier, damit er es sehen könnte – obwohl’s eigentlich egal ist, denn ich werd’ bestimmt versuchen, es dir irgendwie abzuknöpfen. In jeder Pentade reist er so weit, wie ich überhaupt mit den Pelerinen gereist bin, nur um alte Bücher aufzustöbern. Er hat sogar die verschollenen Archive aufgesucht. Hast du davon schon einmal gehört?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich weiß leider nur, was er mir einmal erzählt hat, als er ein bißchen mehr als üblich von der Cuvée unseres Guts getrunken hat, und es mag sein, daß er mir nicht alles gesagt hat, denn er hat bei dieser Unterhaltung offenbar ein wenig Angst gehabt, ich könnte selbst hingehen. Ich hab’s nie getan, was ich manchmal bedauere. Jedenfalls steht in Nessus ein ganzes Stück

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