Das Schwert des Liktors
es über das Gemälde. Die Fliesen waren so vielgestaltig, obgleich sie fugenlos ineinanderpaßten, und zunächst hielt ich sie für Darstellungen von Vögeln, Lurchen, Fischen und derlei Getier, durch den Zugriff des Lebens zusammengeschart. Nun meine ich, daß ich mich getäuscht habe. Eigentlich handelte es sich wohl um die Muster einer geometrischen Form, die ich nicht erfaßte; einer Geometrie, die so komplex war, daß die Lebensformen daraus zum Vorschein traten, wie die Formen echter Tiere durch die vielschichtige Geometrie komplexer Moleküle zum Vorschein treten.
Wie dem auch wäre, die Formen standen offenbar in keinem richtigen Zusammenhang zum ganzen Gefüge. Farbige Linien durchzogen es, und obgleich sie vor Äonen in den Stein der Fliesen gebrannt worden waren, wirkten sie so kräftig und frisch, als wären sie erst vor einem Augenblick mit dem Pinsel eines titanischen Künstlers aufgetragen worden. Die verwendeten Töne waren hauptsächlich ein helles Grün und Weiß, und obwohl ich mehrmals innehielt und das Dargestellte (ob eine Schrift, ein Gesicht oder ein bloßes Ornament aus Linien und Winkeln oder verschlungenen Blattranken) zu entziffern versuchte, konnte ich’s nicht, und vielleicht war es alles oder nichts davon, je nachdem, von welchem Standpunkt man es betrachtete und was man hineininterpretierte.
Als ich diese rätselhafte Wand erst hinter mich gebracht hatte, wurde der Abstieg einfacher. Ich brauchte nicht mehr über steile Partien zu klettern, und obgleich noch mehrmals eingehauene Treppen zu bewältigen waren, waren sie nicht mehr so steil und schmal. Schneller als erwartet erreichte ich den Grund und schaute zum Pfad, den ich überwunden hatte, mit solchem Staunen empor, als hätte ich ihn nie betreten – tatsächlich entdeckte ich mehrere Stellen, wo er durch einen Erdrutsch unterbrochen war, so daß er schier ungangbar schien.
Das Haus, das ich von oben so deutlich erblickt hatte, lag nun unsichtbar hinter Bäumen verborgen; die Rauchfahne seines Schornsteins war allerdings am Himmel erkennbar.
Ich durchquerte einen Wald, der nicht so abschüssig war wie derjenige, den ich, dem Bache folgend, durchschritten hatte. Die dunklen Bäume waren die gleichen, höchstens älter. Die großen Farne des Südens fehlten hier, und überhaupt sah ich sie nirgendwo nördlich des Hauses Absolut – außer im Garten des Abdiesus die gezüchteten –, aber es wuchsen zwischen den Baumwurzeln wilde Veilchen mit glänzenden Blättern und Blüten in der gleichen Farbe wie die Augen der armen Thecla und Moose wie der dickste grüne Samt, so daß der Waldboden wie mit einem Teppich bedeckt und die Bäume alle wie mit feinstem Tuch umschmückt wirkten.
Eine ganze Zeit, bevor ich das Haus oder andere menschliche Spuren sehen konnte, hatte ich einen Hund bellen hören. Dieser Laut rückte die Stille und Herrlichkeit des Waldes, die dennoch im Hintergrund erhalten blieben, in die Ferne. Mir war zumute, als sei irgendein geheimnisvolles Leben, alt und wunderlich, aber doch wohlwollend, im Begriff gewesen, sich mir zu offenbaren, dann aber wieder verschwunden wie eine ungeheuer eminente Persönlichkeit, ein Konzertmeister vielleicht, den ich seit Jahren an meine Schwelle locken wollte, der dann aber beim Anklopfen die Stimme eines anderen, ihm unliebsamen Gastes hörte, die Hand senkte und sich abkehrte, um nie wieder zu kommen.
Dennoch war mir der Laut ein Labsal. Seit beinahe zwei Tagen war ich allein und vorlassen, zuerst auf dem Steinfeld, dann unter der frostigen Pracht der Sterne, dann im stillen Wald. Nun erinnerte mich dieser barsche, vertraute Laut abermals an behaglichen Komfort – erinnerte mich so lebhaft daran, daß ich ihn fast schon spürte. Ich wußte bereits, daß der Hund, sobald ich ihn sähe, wie Triskele wäre; und so war er auch, bis auf vier Beine anstatt nur dreier, dem etwas längeren und schmaleren Schädel und dem dunkleren Braun des Fells, aber mit den gleichen hüpfenden Augen; aber genauso tanzten seine Augen, wedelte er mit dem Schwanz und ließ er die Zunge aus der Schnauze baumeln. Er begann mit einer Kriegserklärung, die er zurückzog, sobald ich auf ihn einredete, und ich war noch keine zwanzig Schritte gegangen, da ließ er sich schon hinter den Ohren kraulen. Ich gelangte zur kleinen Lichtung, worin das Haus stand, während der Hund um meine Beine tollte.
Seine Steinmauern reichten mir kaum über den Kopf. Das Strohdach war so steil, wie ich es noch nie gesehen
Weitere Kostenlose Bücher