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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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und hoffte, die kalte Höhenluft würde mich wieder läutern. Eine Zeitlang beherrschte mich dieses Gefühl, ohne daß ich mir viele Gedanken dazu machte; als wir dann allen Ernstes die Kletterei angingen, erkannte ich, was mich plagte, war die Erinnerung an die Lügen, die ich gegenüber den Magikern gebraucht hatte, indem ich, ihrem Beispiel folgend, vorgab, über große Mächte zu gebieten und in gewaltige Geheimnisse eingeweiht zu sein. Diese Lügen waren völlig gerechtfertigt – sie hatten dazu beigetragen, mir und dem kleinen Severian das Leben zu retten. Nichtsdestoweniger kam ich mir minderwertiger vor, weil ich darauf zurückgegriffen hatte. Meister Gurloes, den ich hassen gelernt hatte, ehe ich die Zunft verließ, hatte häufig gelogen; und nun war ich mir nicht sicher, ob ich ihn haßte, weil er log, oder ob ich das Lügen haßte, weil er ein Lügner war.
    Und dennoch hatte Meister Gurloes so gute Gründe wie ich, wenn nicht sogar bessere vorzuweisen. Er hatte gelogen, um die Gilde zu erhalten und ihr Vorteile zu verschaffen, indem er verschiedenen Amtspersonen und Offizieren unsere Leistungen übertrieben günstig darstellte und Fehler notfalls vertuschte. Dadurch hatte er, das eigentliche Haupt unserer Zunft, gewiß die eigene Position gestärkt, nicht minder aber auch die von mir, von Drotte, Roche, Eata und allen anderen Lehrlingen und Gesellen, die sein Erbe schließlich anträten. Wäre er der einfache, brutale Mann gewesen, als der er sich gern ausgab, könnte ich mir nun sicher sein, daß seine Unaufrichtigkeit nur seinem Vorteil gedient hätte. Ich wußte aber, daß er dieser nicht war; über Jahre hinweg vielleicht hatte er sich so gesehen, wie ich mich jetzt sah.
    Und dennoch mußte ich bezweifeln, ob ich gehandelt hatte, um den kleinen Severian zu retten. Als er fortlief und ich mein Schwert übergab, wär’s für ihn vielleicht besser gewesen, wenn ich gekämpft hätte – der unmittelbare Nutznießer meiner frommen Kapitulation war ich selbst, denn ich hätte beim Kampf den Tod erleiden können. Als ich später geflohen war, kam ich sicherlich ebenso wie um des Knaben auch um Terminus Est willen zurück; kehrt gemacht hatte ich deswegen auch in der Mine der Menschenaffen, als er nicht bei mir war; denn ohne meine Klinge wäre aus mir ein bloßer Vagabund geworden.
    Etwa eine Wache später erklomm ich eine steile Felswand, das Schwert und den Knaben auf meinen Rücken gepackt, und hatte noch immer nicht mehr Gewißheit darüber, was von beiden mir mehr bedeutete. Zum Glück war ich noch recht frisch und die Partie nicht so schwierig wie sonst oft; und wir stießen über dem Fels auf eine alte Landstraße.
    Obgleich ich an viele wunderliche Plätze gekommen bin, habe ich noch keinen so abnorm anmutenden erlebt. Zu unserer Linken, keine zwanzig Schritt entfernt, endete die breite Straße jäh, von einem Erdrutsch in die Tiefe gerissen. Vor uns erstreckte sie sich so makellos wie am Tag ihrer Fertigstellung als Band aus glattem schwarzem Gestein, windungsreich jener immensen Gestalt zustrebend, deren Gesicht sich über den Wolken verlor.
    Der Knabe ergriff meine Hand, als ich ihn absetzte. »Meine Mutter sagte, wir könnten die Straßen nicht benutzen wegen der Soldaten.«
    »Da hatte sie recht«, versicherte ich ihm. »Aber sie war auf dem Weg hinunter, wo die Soldaten sind. Bestimmt gab’s auch hier einmal Soldaten, aber sie waren längst tot, als der größte Urwaldbaum erst ein Samenkorn war.« Da ihm kalt wurde, gab ich ihm eine der Decken und zeigte ihm, wie er sie sich um die Schultern legen und zusammenhalten müsse, um daraus einen Umhang zu machen. Wenn jemand uns gesehen hätte, wären wir ihm vorgekommen wie ein graues Figürchen, von einem unförmigen Schatten gefolgt.
    Nebel umhüllte uns, was mich seltsam dünkte, waren wir doch recht hoch oben. Erst als wir weiter emporgestiegen waren und auf sein sonnenbeschienenes Dach hinabblicken konnten, erkannte ich, daß es eine der Wolken war, die so fern gewirkt hatten, als ich noch vom Sattel zu ihnen aufschaute.
    Gleichwohl lag dieser Sattel, nun so tief unter uns, selbst abertausend Ellen über Nessus und dem Unterlauf des Gyolls. Mir ging nun durch den Kopf, wie weit ich gekommen sein mußte, und ich wunderte mich, daß Urwälder noch in solchen Höhen vorzufinden waren – fast am Nabel der Welt, wo es immer Sommer ist und nur die jeweilige Lage für unterschiedliche Witterungsverhältnisse sorgt. Würde ich nun westwärts

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