Das Schwert des Liktors
Kinder gründlich in ihre Kunst einführen; aber naturgemäß haben solche Leute selten weder erstere noch letztere, und es mag sein, daß andernfalls ihre Kunst darunter litte.
Der zweite Grund ist, daß die bloße Existenz solcher Mächte eine Gegenmacht verlangt. Wir nennen Mächte der ersten Art dunkel, obgleich sie sich wohl eines tödlichen Lichts bedienen können wie auch Decuman; und wir nennen jene der zweiten Art hell, obwohl sie sich bestimmt zuweilen die Dunkelheit zunutze machen, wie ein rechtschaffener Mann nichtsdestoweniger die Vorhänge seines Bettes zuzieht, um zu schlafen. Dennoch hat die Sprache der Dunkelheit und des Lichts etwas Wahres an sich, denn das eine ist offensichtlich im anderen mit inbegriffen. Die Geschichte, die ich dem kleinen Severian vorgelesen habe, besagt, das Universum sei nur ein langes Wort des Increatus. Wir sind somit die Silben dieses Wortes. Aber das Aussprechen eines Wortes ist nichtig, gibt es keine anderen Wörter, die unausgesprochen bleiben. Wenn ein Tier nur über eine plumpe Lautäußerung verfügte, sagt uns dieser Laut nichts; und sogar der Wind hat eine abwechslungsreiche Stimme, so daß man im Hause sitzen und ihm lauschen und bestimmen kann, ob das Wetter stürmisch oder gut ist. Die Mächte, die wir die finsteren nennen, scheinen mir jene Wörter zu sein, die der Increatus nicht ausgesprochen hat, falls es den Increatus überhaupt gibt; und diese Wörter müssen ein Schattendasein führen, wenn das andere Wort, das ausgesprochene Wort, unterscheidbar bleiben soll. Was nicht gesagt worden ist, kann wichtig sein – aber was gesagt worden ist, ist wichtiger. Somit war mein bloßes Wissen um die Existenz der Klaue fast ausreichend, um Decumans Zauber entgegenzuwirken.
Und wenn die Sucher nach dunklen Dingen diese finden, können dann nicht auch die Sucher nach dem Licht es finden? Und werden diese ihre Weisheit nicht viel eher weiterreichen? So hatten die Pelerinen die Klaue gehütet, von Generation zu Generation; und beim Gedanken daran faßte ich stärker denn je den Entschluß, sie zu finden und das Relikt zurückzugeben; denn hätt’ ich’s nicht schon gewußt, hätte mir die Nacht mit dem Alzabo deutlich vor Augen geführt, daß ich nur Fleisch sei und schließlich sterben müßte – und das vielleicht schon bald.
Weil der Berg, dem wir uns näherten, im Norden stand und so seinen Schatten auf diesen urwaldbestandenen Sattel warf, wuchs auf dieser Seite kein hängendes Rankengeflecht. Das blasse Grün der Blätter wurde nur noch blasser, und die Anzahl der toten Bäume, die insgesamt kleiner wurden, nahm zu. Das Laubdach, unter dem wir den ganzen Tag gewandert waren, lichtete sich und lichtete sich nach hundert Schritt abermals und verschwand schließlich vollends.
Dann ragte vor uns der Berg auf, so nahe, daß wir ihn gar nicht als menschliches Ebenbild zu erfassen vermochten. Große wellige Hänge fielen aus einer Wolkenbank herab; es waren, wie ich wußte, lediglich die in Stein gehauenen Falten seiner Robe. Wie oft muß er vom Schlaf aufgestanden sein und sie angelegt haben, vielleicht ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, daß sie hier für ganze Zeitalter verewigt bleiben würden, so monumental, daß sie dem Auge der Menschheit fast entgingen.
Die verwunschene Stadt
Gegen Mittag des nächsten Tages fanden wir abermals Wasser, das einzige Wasser, das wir beide auf diesem Berg kosten sollten. Nur ein paar Streifen Dörrfleisch, das Casdoe für mich zurückgelassen hatte, waren noch übrig. Ich teilte sie aus, und wir tranken von dem Bach, einem kaum daumendicken Rinnsal, was mich seltsam anmutete, da ich auf dem Haupt und den Schultern des Berges soviel Schnee bemerkt hatte. Ich erfuhr später, daß die Hänge unter dem Schnee, wo mit dem Nahen des Sommers der Schnee hätte schmelzen können, vom Wind reingefegt wurden. Weiter oben überdauerten die weißen Wächten indes Jahrhunderte.
Unsere Decken waren feucht vom Tau, und wir breiteten sie zum Trocknen auf Steinen aus. Sie trockneten auch ohne Sonne in der zugigen Bergluft binnen einer Wache. Ich wußte, wir würden die Nacht hoch in den Hängen verbringen, ähnlich meiner ersten Nacht nach dem Aufbruch von Thrax. Dieses Wissen war irgendwie jedoch nicht bedrückend. Froh war ich nicht so sehr deswegen, weil wir die Gefahren im urwaldbestandenen Bergsattel hinter uns brachten, sondern hauptsächlich darum, dort eine gewisse Unlauterkeit zurückzulassen. Ich kam mir besudelt vor
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