Das Schwert des Liktors
ziehen, aus diesem Gebirge fort, fände ich mich, wie ich durch Meister Palaemon wußte, in einem so pestbringenden Dschungel wieder, daß mir derjenige auf dem Bergsattel wie ein Paradies vorkäme; einem Küstendschungel mit dampfender Schwüle und schwärmenden Insekten; und dennoch stieße ich selbst dort auf die Zeichen des Todes, denn obgleich dieser Dschungel soviel Sonne wie jeder andere Ort auf Urth erhielt, war es doch weniger als in früheren Zeiten, und genau wie das Eis des Südens vorwärtskroch und die Vegetation der gemäßigten Zonen vor ihm wich, so starben auch die Bäume und Pflanzen der Tropen, dem Neuankömmling Platz machend.
Während ich zur Wolke hinabgeschaut hatte, war der Knabe vorausgegangen. Nun blickte er mit strahlenden Augen zu mir zurück und rief: »Wer hat diese Straße gebaut?«
»Zweifelsohne die Arbeiter, die den Berg geschaffen haben. Sie müssen große Energien zur Hand gehabt und mächtigere Maschinen, als wir sie kennen, besessen haben. Dennoch werden sie irgendwie den Schutt haben fortschaffen müssen. Tausend Karren und Fuhrwerke müssen hier einst gerollt sein.« Und dennoch wunderte ich mich, denn während die Eisenräder solcher Gefährte selbst das harte Pflaster von Thrax und Nessus aufrissen, war diese Straße glatt wie ein Wandelgang. Sicherlich, dachte ich, wären hier nur die Sonne und der Wind vorübergezogen.
»Großer Severian, schau! Siehst du die Hand?«
Der Knabe deutete auf einen hoch über uns liegenden Felsvorsprung. Ich reckte den Hals, sah aber zunächst nicht mehr als bisher: einen langgezogenen Erker aus unwirtlichem grauem Gestein. Dann funkelte etwas an seiner Spitze im Sonnenlicht. Es schien sich eindeutig um den Glanz von Gold zu handeln; dabei erkannte ich zugleich, daß das Gold ein Ring war, und entdeckte darunter einen versteinerten Daumen, entlang des Felsen ausgestreckt, einen an die hundert Schritt langen Daumen mit den Fingern darüber.
Wir besaßen kein Geld, und ich wußte, wie wertvoll Geld wäre, würden wir wieder bewohnte Gebiete betreten. Wurde ich noch gesucht, könnte Gold die Sucher dazu bewegen, woanders zu suchen. Mit Gold ließe sich auch für den kleinen Severian eine Lehrstelle in einer ordentlichen Zunft erkaufen, denn mir war klar, daß er nicht weiter mit mir ziehen könnte. Höchstwahrscheinlich war der Ring nur blattvergoldeter Stein; aber selbst in diesem Fall ergäbe eine große Menge davon, ließe es sich abschälen und zusammenrollen, eine stolze Summe. Und obschon ich dagegen ankämpfte, drängte sich mir die Frage auf, ob bloßes Blattgold so viele Jahrhunderte hätte überdauern können. Wäre es nicht längst gesprungen und abgefallen? Wäre der Ring aus gediegenem Gold, hätten wir ein Vermögen vor uns; aber alle Reichtümer der Urth hätten dieses Gebilde nicht erstehen können, und sein Bauherr muß unvorstellbar reich gewesen sein. Selbst wenn der Ring nicht bis zum Finger aus purem Gold wäre, müßte doch eine entsprechend dicke Schicht des Metalls vorhanden sein.
All dies überdenkend, kämpfte ich mich bergan und hatte mit meinen langen Schritten den kurzbeinigen Knaben bald eingeholt. Zeitweise stieg die Straße so steil an, daß ich mir kaum vorstellen konnte, wie hier steinbeladene Gefährte vorankommen sollten. Zweimal überquerten wir einen Spalt, wovon einer so weit klaffte, daß ich den Knaben hinüberwerfen mußte, ehe ich selbst darübersetzte. Ich hoffte, vor einer Rast Wasser zu finden; ich fand keins, und als die Nacht anbrach, blieb uns als Obdach nur eine Felsnische, wo wir uns in die Decken und meinen Mantel einhüllten und schliefen, so gut es ging.
Am Morgen hatten wir beide Durst. Obwohl die regenreiche Zeit erst mit dem Herbst käme, sagte ich dem Knaben, es würde heute bestimmt regnen, und guter Dinge setzten wir unseren Weg fort. Er zeigte mir dann auch, wie sich der Durst dadurch vertreiben ließe, daß man einen kleinen Stein in den Mund nähme. Diesen Kunstgriff aus den Bergen hatte ich noch nicht gekannt. Der Wind war zunehmend kälter geworden, und ich spürte, wie dünn die Luft wurde. Gelegentlich schlängelte sich die Straße zu einer Stelle, wo wir kurz in den Genuß des Sonnenscheins kamen.
Dabei führte sie uns immer weiter vom Ring fort, bis wir zuletzt – der Ring war nun ganz außer Sicht – in vollem Schatten irgendwo bei den Knien der sitzenden Gestalt standen. Wir erklommen ein letztes Stück, das so steil war, daß ich mir Stufen gewünscht hätte. Und
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