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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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zweifelsohne derselbe Bach, an dem der Knabe und ich vor zwei Nächten geschlafen hatten. Ohne Gewißheit, ob die formlose Kreatur uns noch auf der Spur wäre, und ohne mich darum zu kümmern, legte ich mich abermals an sein Ufer und fiel in Schlaf.
    Ich war in einem Labyrinth, das dem dunklen, unterirdischen Labyrinth der Zauberer ähnlich und unähnlich zugleich war. Die Gänge waren breiter hier und wirkten manchmal wie die weiten Korridore des Hauses Absolut. Manche waren sogar von Pfeilerspiegeln gesäumt, worin ich mich mit zerrissenem Mantel und hagerem Gesicht und Thecla in einem halb durchsichtigen, lieblichen, wallenden Gewand an meiner Seite sah. Planeten rasten über lange, schräge, runde Bahnen, die nur sie sehen konnten. Die blaue Urth trug den grünen Mond wie einen Säugling, aber ohne ihn zu berühren. Der rote Verthandi wurde zu Decuman mit zerfressener Haut, sich im eigenen Blut wälzend.
    Ich floh und fiel, an allen Gliedern zuckend. Ich sah einen Augenblick lang echte Sterne im taghellen Himmel, aber der Schlaf riß mich so unwiderstehlich wie die Schwerkraft mit sich fort. Neben einer gläsernen Wand schritt ich; und durch sie gewahrte ich den Knaben, ängstlich rennend, im alten, geflickten grauen Hemd, das ich als Lehrling getragen hatte, vom vierten Geschoß, wie mich dünkte, zum Atrium der Zeit laufend. Dorcas und Jolenta schlenderten Hand in Hand daher, lächelnd, aber ohne mich zu sehen. Dann tanzten Autochthonen, kupferhäutig und säbelbeinig, gefiedert und juwelengeschmückt, hinter ihrem Schamanen, tanzten im Regen. Die Undine schwamm durch die Luft, kolossal wie eine Wolke, die Sonne verdeckend.
    Ich erwachte. Regen rieselte mir ins Gesicht. Neben mir schlief der kleine Severian noch. Ich wickelte ihn notdürftig in meinen Mantel und trug ihn wieder zum Spalt im hängenden Rankengewirr. Durch diesen Behang unter den breitkronigen Bäumen drang kaum ein Regentropfen; und dort streckten wir uns aus und schliefen abermals. Nun hatte ich keine Träume, und als wir erwachten, hatten wir einen Tag und eine Nacht verschlafen, und das bleiche Licht der Dämmerung lag überall ausgebreitet.
    Der Knabe war bereits auf den Beinen und spazierte zwischen den Baumstämmen umher. Er zeigte mir den Bach, und ich wusch und rasierte mich, so gut es mit kaltem Wasser ging, wozu ich seit dem ersten Nachmittag im Haus unter dem Kliff nicht mehr Gelegenheit gehabt hatte. Dann fanden wir den vertrauten Pfad und brachen wieder gen Norden auf.
    »Werden wir nicht den dreifarbigen Männern begegnen?« fragte er, und ich sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen und insbesondere nicht davonlaufen – mit den dreifarbigen Männern würde ich schon fertig. In Wahrheit beunruhigten mich weit mehr Hethor und die Kreatur, die er mir auf die Fersen gehetzt hatte. Wenn sie im Feuer nicht umgekommen war, wäre sie uns vielleicht wieder auf der Spur; denn obgleich sie mir wie ein Tier erschienen war, das die Sonne fürchtete, war der düstere Dschungel ein einziges Dämmerlicht.
    Nur ein einziger bemalter Mann trat uns in den Weg, und zwar nicht, um uns am Weitergehen zu hindern, sondern um sich vor uns in den Staub zu werfen. Ich war versucht, ihn zu töten, und der Fall wäre erledigt gewesen; wir sind zwar strengstens angewiesen, nur auf Geheiß eines Richters zu töten und zu verstümmeln, aber meine Ergebenheit in die Angelegenheit der Zunft ließ nach, je weiter ich mich von Nessus entfernte und dem Krieg und der wilden Bergwelt näherte. Einige Mystiker behaupten, der Schlachtendunst gehe aufs Gemüt, sogar Meilen gegen den Wind, und dem mag so sein. Nichtsdestoweniger hob ich ihn auf und hieß ihn stehen.
    »Großer Magus«, stammelte er, »was hast du mit der kriechenden Schwärze gemacht?«
    »In den Schlund zurückgestoßen, woraus ich sie hervorgeholt habe«, antwortete ich, denn da wir der Kreatur noch nicht begegnet waren, ging ich davon aus, daß Hethor sie zurückgerufen hatte, war sie nicht gar tot.
    »Fünf Seelen von uns sind weitergewandert«, sagte der bemalte Mann.
    »So seid ihr denn mächtiger, als ich geglaubt hätte. Sie hat schon Hunderte in einer Nacht umgebracht.«
    Ich war mir überhaupt nicht sicher, ob er uns nicht angreifen würde, kehrten wir ihm erst den Rücken zu, was er aber nicht tat. Der Pfad, den ich am Vortag als Gefangener beschritten hatte, war nun leer. Keine Wachen erschienen, um uns zu behelligen; einige der roten Bänder waren heruntergerissen und unter den Füßen

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