Das Schwert des Sehers
»Ihr wollt, dass ich mich um diesen Dauras … kümmere? Warum? Warum jetzt?«
»Weil er jetzt die Tochter unseres Kaisers entführt hat«, erwiderte von Reinenbach.
Meris richtete sich in ihrem Sessel auf. »Aber Prinzessin …« Sie stellte fest, dass sie den Namen nicht kannte. Niemand wusste etwas über diese Tochter, die vergessen im Palast lebte, ein bloßes Überbleibsel aus einer längst vergangenen früheren Ehe des wahnsinnigen Kaisers, einer Ehe, die mit dem gewaltsamen Tod der Mutter des Mädchens geendet hatte. »Sie ist verheiratet worden, habe ich gehört. Mit irgendeinem Grafen aus dem Norden. Hat sie nicht deswegen den Palast verlassen?«
»In der Tat«, gab der Hofrat zurück. »Und zwei Tage darauf bereute der Kaiser diesen Entschluss schon wieder. Er schickte einen Zug der Adler aus, um seine geliebte Tochter zurückzurufen. Die Soldaten waren gerade einen Tagesritt aus der Stadt hinaus, da stießen sie auf zwei der Wachen, die zum ursprünglichen Zug der Prinzessin gehörten. So erfuhren sie von der Entführung.
Die beiden Gardisten kehrten danach in die Hauptstadt zurück und haben auch hier Bericht erstattet. So habe ich gestern Mittag von der Geschichte erfahren. Die Männer von der Adlerkompanie sind noch dort draußen und suchen nach der Entführten.«
»Und Dauras ist der Entführer?«, fragte Meris. »Er hat wohl kaum allein alle Wachen der Prinzessin überwältigt?«
»Wenn man den geflohenen Gardisten glauben kann, dann ist genau das geschehen. Natürlich wussten sie nicht, wer dieser Mann war, der die Prinzessin mitgenommen hat, das musste ich erst herausfinden. Aber inzwischen bin ich überzeugt davon: Dauras der Schwertkämpfer hat den Zug der Prinzessin überfallen, in einem Gasthaus in Undervilz. Er hat wenigstens ein halbes Dutzend der Ritter und Knappen erschlagen, die der Graf von Guthügeln für seine Braut geschickt hatte. Mehr konnte ich dem Bericht unserer tapferen Legionäre leider nicht entnehmen. Sie waren, fürchteich, sehr schnell weg vom Ort des Geschehens.« Der Hofrat lächelte freudlos.
»Mir scheint«, stellte Meris fest, »dass der Kaiser sich nicht viel Mühe gegeben hat mit dem Schutz seiner Tochter. Mich wundert, dass er sie überhaupt zurückhaben will.«
Der Hofrat hob missbilligend die Brauen.
Meris senkte den Kopf. »Verzeiht. Eine solche Bemerkung steht mir nicht zu.«
Von Reinenbach verzog das Gesicht. »Leider hast du recht. Die Sicherheit der Prinzessin oblag weitestgehend ihrem Bräutigam, der im Rahmen seiner Möglichkeiten vermutlich getan hat, was er konnte. Der Kaiser gewährte ihr zwar eine Ehrengarde, aber er ließ die entbehrlichsten Männer dafür auswählen.
Doch in den letzten Tagen hat sich seine Haltung in dieser Angelegenheit geändert. Seit einer halben Dekade ruft der Kaiser nach seiner Tochter, so laut, als hinge das Schicksal des Reiches davon ab, dass sie an seiner Seite ist. Er will sie von ihrem Bräutigam zurückholen. Und er wird die gesamte kaiserliche Legion in Marsch setzen, wenn wir es ihm nicht ausreden.
Deswegen möchte ich, dass du dich der Sache annimmst.«
»Was könnte ich tun?«, fragte Meris. »Ein ganzer Zug der Adlerkompanie sucht schon nach ihr, vierzig berittene Soldaten. Reicht das nicht aus, um mit einem Schwertkämpfer fertig zu werden?«
»Ich möchte es ungern darauf ankommen lassen«, erwiderte der Hofrat. »Nach allem, was ich gehört habe, sind gewöhnliche Menschen in Dauras’ Augen nur Vieh, das wie betäubt herumsteht, während er es abschlachtet.«
Meris sah ihn zweifelnd an. Sie hatte viele gute Kämpfer kennengelernt, aber eine hinreichend große Übermacht hatte bisher jeden zur Strecke gebracht.
Von Reinenbach hob den Finger und bedeutete ihr zu schweigen. »Es ist auch gleichgültig, ob die Gardisten am Ende gewinnen können. Selbst wenn die Adler Manns genug sind, es mit diesem abtrünnigen Schwertmönch aufzunehmen, könnte die Prinzessin bei einem Kampf zu Schaden kommen. Möglicherweise finden sie ihn gar nicht, weil er einer lärmenden Schar von Kriegern leicht aus dem Weg gehen kann. Vieles könnte schieflaufen, wenn man die Angelegenheit nicht richtig anpackt.
Darum will ich, dass du das Kommando übernimmst und die Sache mit Verstand angehst. Vielleicht solltest du nur einen Trupp behalten und den Rest des Zuges nach Hause schicken. Das ist keine Aufgabe für Soldaten, sondern eine für Jäger. Je weniger die Männer sich auf ihre Stärken verlassen, umso besser wird
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