Das Schwert des Sehers
niemals gemeistert hat, ist nicht der Weg unseres Tempels. Es hat seinen Grund, dass wir die Bilder lernen. Diese festgelegten Bewegungsfolgen verleihen dir Sicherheit und Präzision. Von da aus magst du eigene Bilder schaffen, oder auch einmal ganz freie Züge. Du jedoch führst dein Schwert wie eine Waffe.«
»Aber es ist eine Waffe«, sagte Dauras. »Und ich führe sie gut. Kein Lehrer kann etwas anderes behaupten.«
Der Abt seufzte. »Kein Lehrer behauptet etwas anderes. Sie haben mir nur berichtet, dass du an deinen Stärken arbeitest und nicht an deinen Schwächen. Du musst nicht besser werdenmit dem Schwert, du musst eins werden mit dem, was du tust.«
Dauras blickte auf sein Schwert. Wieder regte sich Trotz in ihm. Es ist gut, dass ich nicht mehr besser werden muss, dachte er bei sich. Hier ist ohnehin niemand, der mir das beibringen könnte.
Dennoch neigte er den Kopf und sagte laut: »Ich bedanke mich für die Unterweisung, Meister.«
In seinem sechzehnten Jahr stand Dauras dem Abt ein weiteres Mal gegenüber. Der Boden der Halle vibrierte unter ihren Tritten. Ihre Klingen sausten durch die Luft, aber es war ein anderer Kampf als beim letzten Mal. Im Grunde war es überhaupt kein Kampf mehr.
Dauras wollte sich nicht nachsagen lassen, dass er nicht lernte. Wie der Abt es ihm geraten hatte, hatte er sich mit den Bildern der Kampfkunst beschäftigt. Diese einstudierten Bewegungen mit genau festgelegten Übergängen, die im Drill fast zu einem Reflex wurden, erlaubten es dem Kämpfer, mit einer Schnelligkeit und Präzision zu agieren, die für gewöhnliche Menschen schier unvorstellbar war.
Doch er war auch ohne diese Bilder schneller als jeder andere Mensch. Und er hatte bemerkt, dass seine Gegner im Kloster rascher auf seine Angriffe reagierten, wenn er nach den Bildern kämpfte – sie erkannten die vertraute Bewegung im Ansatz und konnten sich darauf einstellen.
Darum hatte er sich diesen Techniken schon früh verweigert. Und als er älter wurde und seine Lehrer ihm nur noch Wissen voraushatten, das ihnen im Kampf kaum einen Vorteil brachte, da sah er immer weniger einen Grund, sich ihren Regeln zu unterwerfen.
Dennoch, eines hatte er aus der ersten Lektion des Abtesmitgenommen: dass sein Widerstreben ihm vielleicht auch im Weg gestanden hatte. Er hatte es abgelehnt, nach den Bildern zu kämpfen. Aber er hätte es nicht ablehnen dürfen, sie intensiver zu studieren!
Das hatte er in den vergangenen beiden Jahren nachgeholt.
Jetzt stand er dem Abt gegenüber, und jede ihrer Bewegungen war ein ganzer Kampf. Der Abt griff an, und Dauras konterte so schnell wie ein Gedanke. Seine Klinge landete präzise vor der Kehle, vor dem Herz, vor dem Auge des Abtes. Keiner seiner Schläge war zu parieren.
Sie gingen vor und zurück wie in einem einstudierten Tanz. Jeder Angriff von Dauras schnitt durch die Lücken in den Bildern, und das Schwert des Abtes berührte seine Klinge nicht ein einziges Mal. Er lief durch die Angriffe des Abtes hindurch, als wäre dessen Waffe gar nicht vorhanden.
Sie beendeten den Kampf, und der Abt neigte den Kopf vor Dauras.
»Du hast geübt«, sagte er.
Dauras strahlte. »Ich habe mir Eure Lektion zu Herzen genommen. Ich habe mich noch einmal mit den Bildern beschäftigt – und meine eigenen geschaffen.«
»Du hast also Bilder geschaffen, mit denen ein Mann die klassischen Bilder kontern kann«, stellte der Abt fest. »Ein Mann jedenfalls, der deine Fähigkeiten mitbringt.«
»Hm, ja«, sagte Dauras. »Ich habe einen Kampfstil geformt, der genau auf meine Fähigkeiten zugeschnitten ist. Es fühlt sich so mühelos an wie gehen oder atmen. Ist es nicht das, was ein Priester des Schwertes erlangen muss? Eine solche Selbstverständlichkeit, dass das Schwert eins ist mit ihm.«
Der Abt strich sich über den Bart. Er sah müde aus, fand Dauras. »Das ist wohl so«, erwiderte der Abt. »Doch das ist nicht alles. Die Bilder weisen uns den Weg, aber wir müssen darüber hinausgehen, um Priester des Schwertes zu werden.«
»Ich bin darüber hinausgegangen!« Dauras fühlte sich an die Begegnung vor zwei Jahren erinnert. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, dass es für die Rätsel des Abtes überhaupt keine Lösung gab, dass es nur Worte waren, mit denen der Meister einen Kampf gewinnen wollte, den er mit dem Schwert bereits verloren hatte. »Immerhin hat mein Kampfstil alles besiegt, was die Bilder zu leisten vermögen.«
Ein feines Lächeln kräuselte die Mundwinkel des
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