Das Schwert in Der Stille
Rache riefen, und ich versuchte zu beten, fühlte aber nichts als eine ungeheure Leere. Der geheime Gott, den die Verborgenen verehren, war mit meiner Familie verschwunden. Ohne sie hatte ich keine Verbindung zu ihm.
Neben mir schlief Lord Otori so friedlich wie im Gästezimmer der Herberge. Doch noch mehr als ich musste er sich der Forderungen bewusst sein, die von den Toten gestellt wurden. Beklommen dachte ich an die Welt, die ich betreten würde - eine Welt, von der ich nichts wusste, die Welt der Clans mit ihren strengen Regeln und ihren harten Gesetzen. Was mich hineinführte, war die Laune dieses Lords, der sozusagen mein Besitzer war; vor meinen Augen hatte sein Schwert einen Mann geköpft. Ich schauderte in der feuchten Nachtluft.
Vor dem Morgengrauen standen wir auf, und als sich der Himmel grau färbte, überquerten wir den Fluss, der die Grenze zur Domäne der Otori war.
Nach der Schlacht von Yaegahara waren die Otori, die zuvor das ganze Mittlere Land regiert hatten, von den Tohan in einen schmalen Landstreifen zwischen der letzten Bergkette und dem nördlichen Meer abgedrängt worden. Auf der wichtigen Poststraße wurde die Grenze von Iidas Männern bewacht, aber in diesem wilden, abgelegenen Land gab es viele Stellen, an denen man über die Grenze schlüpfen konnte; die meisten Tagelöhner und Bauern betrachteten sich immer noch als Otori und waren nicht gut auf die Tohan zu sprechen. Lord Otori erklärte mir das alles an diesem Tag auf unserer Wanderung; das Meer lag jetzt immer rechts von uns. Er erzählte mir auch von der Landschaft, machte mich auf die angewandten landwirtschaftlichen Methoden aufmerksam, auf die Kanäle, die zur Bewässerung angelegt worden waren, die selbst gewebten Netze der Fischer, die Salzgewinnung aus dem Meer. Er interessierte sich für alles und wusste über alles Bescheid. Allmählich wurde der Weg zu einer belebten Straße. Bauern gingen zum Markt ins nächste Dorf, sie brachten Süßkartoffeln und Gemüse, Eier und getrocknete Pilze, Lotuswurzeln und Bambus. Am Markt machten wir Halt und kauften neue Strohsandalen, weil unsere zerfielen.
Als wir an diesem Abend zur Herberge kamen, kannte dort jeder Lord Otori. Sie liefen heraus, um ihn mit Freudenrufen zu begrüßen, und warfen sich vor ihm nieder. Die besten Zimmer wurden vorbereitet, und zur Abendmahlzeit gab es einen Gang nach dem anderen mit köstlichen Gerichten. Der Lord schien sich vor meinen Augen zu verwandeln. Natürlich hatte ich gewusst, dass er von hoher Geburt war und der Kriegerklasse angehörte, aber ich hatte immer noch keine Ahnung, wer er war oder welche Rolle er in der Hierarchie seines Clans spielte. Doch jetzt dämmerte es mir, dass er einen hohen Rang einnahm. In seiner Gegenwart wurde ich noch schüchterner. Ich spürte, dass jeder mich von der Seite ansah und beobachtete, was ich machte, und mich am liebsten mit einem Klaps aufs Ohr davongeschickt hätte.
Am nächsten Morgen trug der Lord Kleider, die seiner Stellung entsprachen; Pferde warteten auf uns und vier oder fünf Gefolgsleute. Sie grinsten einander zu, als sie sahen, dass ich nichts von Pferden verstand, und schienen überrascht, als Lord Otori einem von ihnen befahl, mich hinter sich auf sein Pferd zu nehmen, obwohl natürlich keiner etwas zu sagen wagte. Auf der Reise versuchten sie mit mir zu reden - sie fragten mich, woher ich kam und wie ich hieß -, doch als sie merkten, dass ich stumm war, hielten sie mich auch noch für dumm und taub. Sie redeten mich laut mit einfachen Worten an und benutzten die Zeichensprache.
Mir lag nicht viel daran, auf dem Pferderücken durchgerüttelt zu werden. Bisher war ich nur Iidas Pferd nahe gekommen und dachte, alle Pferde könnten mir böse sein, weil ich diesem so viel Schmerz zugefügt hatte. Und ich fragte mich, was ich tun würde, wenn wir nach Hagi kämen. Ich stellte mir vor, eine Art Knecht im Garten oder im Stall zu sein. Aber es stellte sich heraus, dass Lord Otori andere Pläne mit mir hatte.
Am Nachmittag des dritten Tages nach der Nacht, die wir am Rand von Yaegahara verbracht hatten, kamen wir zu der Stadt Hagi, der Residenz der Otori. Ihr Schloss stand auf einer Insel zwischen zwei Flüssen und dem Meer. Von einer Landzunge zur Stadt führte die längste Steinbrücke, die ich je gesehen hatte. Durch ihre vier Bogen strömte das zurückflutende Wasser, und die Wände waren aus perfekt zusammengefügten Steinblöcken. Ich glaubte, die Brücke müsse durch Zauberei entstanden
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