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Das Schwert in Der Stille

Das Schwert in Der Stille

Titel: Das Schwert in Der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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plötzlicher Windstoß erhob sich, die Läden knarrten, und mit dem Geräusch wurde die Welt für mich wieder unwirklich. Es war, als würde eine Stimme in meinem Kopf sagen: Das ist es, was aus dir werden wird. Ich wollte verzweifelt die Zeit zurückdrehen bis zu dem Tag, bevor ich auf dem Berg Pilze sammelte - zurück zu meinem alten Leben mit meiner Mutter und meinem Volk.
    Aber ich wusste, dass meine Kindheit hinter mir lag, erledigt war, für immer unerreichbar. Ich musste ein Mann werden und ertragen, was auf mich zukam.
    Mit diesem edlen Gedanken folgte ich Chiyo zum Badehaus. Sie hatte offensichtlich keine Ahnung, zu welcher Entscheidung ich gekommen war: Sie behandelte mich wie ein Kind, wies mich an, meine Kleider abzulegen, und schrubbte mich von Kopf bis Fuß, bevor sie ging und mich dem kochend heißen Wasser überließ, in dem ich mich aalte.
    Später kam sie mit einem leichten Baumwollgewand zurück, das ich anziehen sollte. Ich tat, was sie sagte. Was konnte ich sonst tun? Sie rieb mir die Haare mit einem Handtuch trocken, kämmte sie zurück und band sie zu einem Knoten.
    »Wir lassen sie schneiden«, murmelte sie und fuhr mir mit der Hand übers Gesicht. »Du hast noch nicht viel Bart. Wie alt bist du? Sechzehn?«
    Ich nickte. Sie schüttelte den Kopf und seufzte. »Lord Shigeru will, dass du mit ihm isst«, sagte sie und fügte leise hinzu: »Ich hoffe, du bringst ihm nicht noch mehr Leid.«
    Ich nahm an, dass Ichiro seine Zweifel mit ihr geteilt hatte.
    Ich folgte ihr zurück ins Haus und versuchte alles, was ich dort sah, in mich aufzunehmen. Es war inzwischen fast dunkel; Lampen in eisernen Ständern warfen einen orangefarbenen Schein in die Ecken der Räume, gaben aber zu wenig Licht, als dass man viel hätte sehen können. Chiyo führte mich zu einer Treppe in der Ecke des großen Wohnzimmers. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen: In Mino hatten wir Leitern, aber niemand besaß eine richtige Treppe wie diese hier. Das Holz war dunkel und glänzend poliert - Eiche, nahm ich an -, und jede Stufe hatte ihren eigenen kleinen Klang, als ich darauf trat. Wieder kam mir das wie Zauberei vor, und ich glaubte, die Stimme des Erbauers darin zu hören.
    Der Raum war leer, die Schiebefenster zum Garten weit geöffnet. Es fing gerade an zu regnen. Chiyo verbeugte sich vor mir - nicht sehr tief, stellte ich fest - und ging wieder die Treppe hinunter. Ich horchte auf ihre Schritte und hörte sie in der Küche mit den Dienstmädchen sprechen.
    Es war der schönste Raum, in dem ich je gewesen war. Seit damals habe ich meinen Teil an Schlössern, Palästen, Adelsresidenzen gesehen, aber nichts ist zu vergleichen mit dem oberen Raum in Lord Otoris Haus an jenem Abend spät im achten Monat, als der Regen draußen sanft auf den Garten fiel. Im Hintergrund des Zimmers streckte sich eine große Säule, der Stamm einer einzelnen Zeder, vom Boden bis zur Decke; er war poliert, damit man Astlöcher und Maserung des Holzes sah. Auch die Balken waren aus Zedernholz, ihr zartes Rotbraun hob sich von den cremeweißen Wänden ab. Die Matten verblassten schon zu leichtem Gold, die Kanten waren mit breiten Streifen indigoblauen Tuchs gesäumt, in die der Otorireiher weiß eingewebt war.
    Ein Rollbild hing in der Nische, das Gemälde eines kleinen Vogels. Er sah aus wie der Fliegenschnäpper mit den grünweißen Flügeln aus meinem Wald. Er wirkte so lebendig, als würde er gleich wegfliegen. Ich war erstaunt, dass ein großer Maler die einfachen Vögel der Berge so gut kannte.
    Von unten hörte ich Schritte und setzte mich schnell auf den Fußboden, die Beine ordentlich untergeschlagen. Durch die offenen Fenster konnte ich einen großen grauweißen Reiher in einem der Gartenteiche stehen sehen. Sein Schnabel stieß ins Wasser und kam mit einem zappelnden kleinen Geschöpf heraus. Der Reiher hob sich elegant in die Luft und flog über die Mauer davon.
    Lord Otori kam herein, gefolgt von zwei Dienstmädchen mit dem Abendessen auf Tabletts. Er schaute mich an und nickte. Ich verbeugte mich bis zum Boden. Der Gedanke kam mir, dass er, Otori Shigeru, der Reiher war und ich das zappelnde kleine Ding, das er geschnappt hatte, als er den Berg herab in meine Welt gekommen und wieder aufgestiegen war.
    Der Regen rauschte stärker, und in Haus und Garten fing das Wasser an zu singen. Es stieg aus den Abflüssen und lief durch die Rohre und in den Bach, der von Teich zu Teich sprang, wobei jeder Wasserfall einen anderen Klang hatte.

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