Das Schwert in Der Stille
sein, und als die Pferde sie betraten, musste ich die Augen schließen. Das Rauschen des Flusses klang in meinen Ohren wie Donner, doch darunter konnte ich etwas anderes hören - eine Art leises Wehklagen, das mich schaudern ließ.
Mitten auf der Brücke rief mich Lord Otori. Ich rutschte vom Pferderücken und ging zu ihm. Ein großer Findling mit eingemeißelten Schriftzeichen war ins Geländer gesetzt worden.
»Kannst du lesen, Takeo?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Dein Pech. Du wirst es lernen müssen!« Er lachte. »Und ich glaube, dein Lehrer wird dich leiden lassen! Du wirst es bedauern, dass du dein wildes Leben in den Bergen hinter dir gelassen hast.«
Er las mir laut vor: »Der Clan der Otori heißt die Gerechten und die Treuen willkommen. Die Ungerechten und die Untreuen sollen sich in Acht nehmen.« Unter den Schriftzeichen war das Wappen mit dem Reiher.
Ich ging neben seinem Pferd bis zum Ende der Brücke. »Sie haben den Steinmetz lebend unter dem Findling begraben«, bemerkte Lord Otori beiläufig, »damit er nie eine andere, gleichwertige Brücke baut und sein Werk für immer bewacht. Bei Nacht kannst du hören, wie sein Geist mit dem Fluss spricht.«
Nicht nur bei Nacht. Der Gedanke an den traurigen Geist, der in seinem wunderschönen Werk gefangen war, ließ mich frösteln, aber dann waren wir in der Stadt, und die Geräusche der Lebenden übertönten die der Toten.
Hagi war die erste große Stadt, in der ich je gewesen war, und sie kam mir riesig und ungeheuer verwirrend vor. Mein Kopf dröhnte von den Geräuschen: den Rufen der Straßenverkäufer, dem Klappern der Webstühle in den schmalen Häusern, den harten Schlägen der Steinmetze, dem kreischenden Schnappen der Sägen und vielen anderen Geräuschen, die ich nie zuvor gehört hatte und nicht identifizieren konnte. Eine Straße war voller Töpfer, und der Geruch des Tons und der Brennöfen schlug mir in die Nasenlöcher. Ich hatte nie zuvor eine Töpferscheibe oder das Prasseln in einem Ofen gehört. Und unter all den anderen Geräuschen lagen das Geplapper, das Gelächter, die Rufe und Flüche von Menschen, genau wie unter den Gerüchen der immer vorhandene Gestank ihrer Ausscheidungen lag.
Über den Häusern ragte das Schloss auf; es war mit dem Rücken zum Meer erbaut. Einen Augenblick lang glaubte ich, wir würden dorthin gehen, und das Herz wurde mir schwer, weil das Gebäude so finster und bedrohlich aussah, doch wir wandten uns nach Osten und folgten dem Nishigawa zu dem Punkt, wo er mit dem Higashigawa zusammenfloss. Links von uns lag ein Gebiet mit gewundenen Straßen und Kanälen, wo ziegelgedeckte Mauern viele große Häuser umgaben, die zwischen den Bäumen gerade noch sichtbar waren.
Die Sonne verbarg sich hinter dunklen Wolken, und die Luft roch nach Regen. Die Pferde schritten schneller aus, sie wussten, dass sie fast zu Hause waren. Am Ende der Straße stand ein Tor weit offen. Die Wächter waren aus dem Wachhaus daneben gekommen und fielen mit gebeugten Köpfen auf die Knie, als wir vorüberkamen.
Lord Otoris Pferd senkte den Kopf und rieb ihn an mir. Es wieherte, und ein anderes Pferd antwortete aus dem Stall. Ich hielt die Zügel und der Lord stieg ab. Die Männer aus dem Gefolge führten die Pferde weg.
Lord Otori ging durch den Garten zum Haus. Ich stand einen Moment zögernd da und wusste nicht, ob ich ihm folgen oder mit den Männern gehen sollte, doch er wandte sich um, rief meinen Namen und winkte mir.
Der Garten war voller Bäume und Büsche, die sich nicht wie die wilden Bäume auf dem Berg dicht aneinander drängten; hier war alles an seinem Platz, gesetzt und wohlerzogen. Und doch glaubte ich hin und wieder den Berg vor mir zu haben, als wäre er in einer Miniaturausgabe hierher gebracht worden.
Voller Geräusche war er auch - Wasser floss über Steine und rieselte aus Rohren. Wir wuschen uns die Hände am Brunnen, und das Wasser floss klingend, wie eine Glocke, als wäre es verzaubert.
Die Hausbediensteten warteten schon auf der Veranda, um ihren Herrn zu begrüßen. Überrascht sah ich, dass es nur wenige waren, doch später erfuhr ich, dass Lord Otori sehr einfach lebte. Es waren drei junge Mädchen, eine ältere Frau und ein Mann um die fünfzig. Nach den Verbeugungen zogen sich die Mädchen zurück, und die beiden Älteren schauten mich mit kaum verhülltem Erstaunen an.
»Er gleicht so…!«, flüsterte die Frau.
»Unheimlich!« Der Mann schüttelte den Kopf.
Lord Otori lächelte, als er aus
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