Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
und betrachten sofort alle europäischen Herrscher als lediglich temporäre Statthalter des chinesischen Kaisers. Schon hier, noch stärker aber in der folgenden »Russischen Uchronik« wird ein Problem sichtbar, dass jedem Verfasser kontrafaktischer Geschichte früher oder später begegnet: Der Witz der Sache kann nur verstanden werden, wenn der Leser mehr als nur eine ungefähre Ahnung davon hat, wie die betreffende Historie tatsächlich verlaufen ist und wer die darin verstrickten Personen gewesen sind. Sind ihm diese Tatsachen böhmische Dörfer, können ihn die alternativen Geschichtsverläufe nur als Geschichten fesseln; Simon liefert hier jedoch mehr oder weniger eine Zusammenstellung von Sachtexten ab, lediglich »Der Gesang vom Stierkampf« weist tatsächlich narrative Elemente auf.
Insofern haben Texte wie »Russische Uchronik« (mehrere Varianten, wie die Geschichte Russlands hätte ganz anders verlaufen können), »Wenn Thälmann 1934 nicht Reichspräsident geworden wäre« (statt Hitler wird Gregor Strasser NSDAP-Chef, und die KPD stellt den Reichskanzler), »Historische Konstanten: Die Notwendigkeit der Wiedervereinigung« (die Volksrepublik Lausitz und die Rheinische Republik spalten sich von Deutschland ab, ganz zu schweigen von der DDR) und »Die BayernKrise« (so ziemlich jedes Bundesland ruft einen eigenen Staat aus) ein eher eingeschränktes Publikum. Alle diese vier Texte hatte Erik Simon schon 1999 in der von ihm herausgegebenen Anthologie »Alexanders langes Leben, Stalins früher Tod« veröffentlicht, drei davon unter den Pseudonymen G. W. Inomerski (ein Anagramm von »Erik Simon«), Iris Monke und Victor Zyx. Dabei lässt Erik Simon gerne Daten und Fakten aus der realen Historie mit solchen aus seinen »falschen« Historien zusammenfallen.
»Die Sachsen haben Augusts Herz« erklärt sehr schön, warum das Grün des Islam die Hälfte der sächsischen Fahne ausmacht und wieso neben den Bahngleisen, die zum Dresdner Hauptbahnhof führen, so ein moscheeförmiger Riesenbau steht: Weil August der Starke nicht nur König von Sachsen und Polen, sondern auch Herrscher der Türkei gewesen ist, ganz einfach. Insgesamt zeigen die Texte dieses Teils gegenüber den anderen des Bandes eine gewisse, dem Genre eigene Sprödigkeit.
Der dritte Teil, »Die Zeit und die Spiegel«, nimmt dann fast die komplette zweite Hälfte des Bandes ein und behandelt genau diese beiden Themen, oft miteinander auf die eine oder andere Weise verwebt. »Von der Zeit, von der Erinnerung« war 1993 die erste Geschichte eines Autors aus dem Osten, die den Kurd-Laßwitz-Preis gewinnen konnte – oder die zweite, denn auch Angela Steinmüller gewann im selben Jahr den Preis (es gab damals noch eine Kategorie für Kurzgeschichten und eine für Erzählungen). Die Erzählung kreist um das Thema des Zeitparadoxons – und zwar auf eine durchaus wortwörtliche Weise.
»Nebenwirkung« ist eine schon 1971 geschriebene Pointen-Geschichte, die gegen Ende hin ein wenig schwer lesbar wird. Ein Spiegel könnte helfen.
»Den ganzen Wachturm entlang« ist wieder eine Story, die mit den Erwartungen des Lesers spielt. Wenn der Dieb gleich am Anfang fest stellt, dass die Stiefel des noch am Galgen baumelnden Gehenkten, den er gerade bestiehlt, ihm passen wie angegossen, erwartet man natürlich, auf eine Zeitschleife zu stoßen, sodass der Dieb am Ende seinen eigenen Leichnam bestohlen hat. So ähnlich ist es dann zwar auch, aber auf eine sehr ungewöhnliche Art und Weise, und dem Begriff vom Selbstgespräch eine ganz neue Wendung verleihend.
»Spiegel und Echo. Ein Manuskript aus dem Jahr 1327« ist eine mit zahlreichen Geheimnissen spielende Bibliotheks-Geschichte, in der es um ein Buch geht, das jeden blind macht, der hineinschaut. Was wäre geeigneter als eine Bibliothek, um so ein Buch zu verstecken, und wer wäre geeigneter als ein blinder Bibliothekar, um das Buch zu bewachen? Dumm nur, dass das Augenlicht des Bibliothekars langsam wiederzukehren beginnt. Und als er nach und nach die Schätze der Bibliothek zu erforschen beginnt, stößt er auf Dokumente, die geeignet sind, die Mächtigen in Bedrängnis zu bringen.
»Zu Frankfurt auf der Brücke« ist ein Blick in die Zukunft, wenn auch ein recht seltsamer; manchmal möchte man ja nicht wahrhaben, was man im Spiegel sieht.
Die abschließende Erzählung »Die Zeitspiegel« ist für Erik Simons Verhältnisse von geradezu epischem Umfang – fast sechzig Seiten (zum Vergleich:
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