Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
bedenkt, lässt sich wohl auch vorhersagen, dass andere Formen der körperlichen Modifikation, die man derzeit nur aus Dokumentationen über Völker in entlegenen Weltgegenden kennt, in unsere Gesellschaft Einzug halten werden. Sind Sie bereit für Lippen, die so lange gedehnt werden, bis sie Scheiben von der Größe einer CD bilden? Ohrläppchen, die bis zum Hals reichen? Alles, was menschliche Wesen irgendwann einmal aus eigener Entscheidung mit ihren Körpern veranstaltet haben, wird eines Tages wiederaufleben.
Wenn ich behaupte, dass unsere Zukunft im Großen und Ganzen unserer Gegenwart gleichen wird und dass wir hier und da sogar alte Traditionen wiederaufgreifen werden, kann man mir natürlich vorwerfen, dass ich hoffnungslos konservativ sei, ein alter Zausel, der sich an der Vergangenheit festklammert, weil er Angst vor der Zukunft hat. Aber da ich mich im Internet einigermaßen zurechtfinde und auch ziemlich gut darin bin, mit Mario gegen Bowser anzutreten, kann man mich eigentlich nicht als einen Menschen bezeichnen, der dem Fortschritt hinterherhinkt. Nein, ich bin kein blinder Reaktionär, sondern jemand, der, nachdem er viel Zeit damit verbracht hat, über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Menschen nachzudenken, begriffen hat, dass sich die Geschichte des menschlichen Lebens auf der Erde nicht als stetiger Fortschritt von einem eingebildeten Zustand der Primitivität zu einem eingebildeten Zustand der Zivilisation beschreiben lässt. Vielmehr lässt sie sich am besten als stetiges Anwachsen von Möglichkeiten beschreiben, die den Menschen zur Verfügung stehen. Heute kann man in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft leben; man kann beschließen, sich zu verhalten wie unsere Vorfahren, wie die meisten anderen Mitmenschen oder wie einige wenige Pioniere, die das Gebaren einer zukünftigen Mehrheit vorwegnehmen. Ja, unsere Nachkommen werden sogar noch mehr Möglichkeiten zur Auswahl haben als wir heute, doch viele von ihnen werden den Großteil ihrer Zeit vermutlich am liebsten so verbringen wie wir heute – wie auch heute viele Menschen den Großteil ihrer Zeit am liebsten so verbringen, wie ihre Vorfahren es getan haben. Das menschliche Leben der Zukunft wird also vielfältiger sein, ohne sich unbedingt groß von unserem zu unterscheiden. Und auch wenn das nicht ganz so spannend klingt wie die hoffnungsvollen Szenarien der Futuristen oder die dystopischen Albträume der Science Fiction, handelt es sich doch um die beste Zukunftsvorhersage, die ich derzeit anzubieten habe.
Gary Westfahl ist Dozent an der University of California, Riverside, und befasst sich als Autor und Herausgeber seit vielen Jahren mit den Themen der Science Fiction.
Anmerkungen
1 Harlan Ellison: »Cheap Thrills on the Road to Hell«, erschienen in: Sleepless Nights in the Procrustean Bed – Essays by Harlan Ellison , hrsg. von Marty Clark, Borgo Press 1984. Erstveröffentlichung in der Los Angeles Times vom 1. Januar 1982.
2 Isaac Asimov: »Prediction«, in: Gold – The Final Science Fiction Collection , Harper Prism 1996. Erstmals erschienen in Isaac Asimov’s Science Fiction Magazin im Juli 1989. Eine deutsche Übersetzung des Bands erschien 1995 unter dem Titel Gold bei Bastei Lübbe.
3 Hugo Gernsback: Ralph 124C 41+: A Romance of the Year 2660 , New York 1925; die deutsche Übersetzung erschien 1957 als Utopia-Großband und 1973 als Taschenbuch bei Heyne.
4 David H. Keller: »The Revolt of the Pedestrians«, in: Amazing Stories: 60 Years of the Best Science Fiction , hrsg. von Isaac Asimov und Martin H. Greenberg, New York 1985. Erstveröffentlichung in Amazing Stories , Februar 1928.
5 In: Computer streiten nicht , hrsg. von Damon Knight, München 1980. Originaltitel: »›Repent, Harlequin!‹, Said the Ticktockman«, in: Harlan Ellison: Alone Against Tomorrow: Stories of Alienation in Speculative Fiction , New York 1972. Erstveröffentlichung in Galaxy , Dezember 1965.
6 Robert A. Heinlein: »Where To?«, in: Expanded Universe: The New Worlds of Robert A. Heinlein , New York 1980. Eine ältere Fassung erschien im Februar 1952 in Galaxy .
7 Originaltitel: »Our Favourite Cliché: A World Filled with Idiots … or Why Fiction Routinely Depicts Society and Its Citizens as Fools«, in: Extrapolations 41 , Frühjahr 2000.
8 In: Die besten Stories von Frederik Pohl , Pabel-Moewig 1995. Originaltitel: »The Midas Plague« (1954).
9 Originaltitel: The Joy Makers ; die deutsche Übersetzung
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