Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
erschien 1977 bei Ullstein.
10 Originaltitel: Count Zero ; die deutsche Übersetzung ist derzeit im Sammelband Die Neuromancer-Trilogie , Heyne 2012, erhältlich.
Wolfgang Neuhaus
KRITIK DER PHANTASTISCHEN VERNUNFT
Wie Stanis ł aw Lem sich einst die »Pseudo-Science-Fiction« vornahm und zu dem Ergebnis kam, dass der Empirismus doch nicht das Maß aller Dinge ist
Das menschliche Gehirn ist ein erstaunliches Organ, »Schauplatz« von sehr unterschiedlichen Symbolisierungen. Ob poetisches Gedicht, wirtschaftlicher Geschäftsbericht, religiöse Bibel-Exegese oder Science-Fiction-Text, alle diese symbolischen Erzeugnisse werden mit der gleichen »Hardware« hergestellt. Die Freiheit des Gehirns, mit solchen Zeichen zu operieren, ist sehr groß, da sie nicht belastet ist von den Naturgesetzen, von materiellen Substraten – abgesehen davon, dass solche auf die Rahmenbedingungen des Gehirns einwirken. Die symbolische Welt im Kopf hat selbst mit der Realität nichts zu tun, die Hardware schon. Wenn der Körper nicht mit Nahrung versorgt wird, stirbt er – und damit auch das Bewusstsein. Man schiebt im Bewusstsein nur Symbole hin und her, darin liegt ihre große Produktivität. Auf der anderen Seite sind sie nicht direkt sinnlich fassbar, was eine Barriere für den Alltagsverstand darstellt, der immer nach der empirischen Verankerung der Zeichen sucht und mathematische Formeln etwa für zu abstrakt hält. Man kann sich in der Phantasie alles vorstellen, ob es Sinn hat oder nicht. Aus der Binnensicht, aus der lokalen Perspektive des Gehirns sind alle diese Zeichen gleich; es gibt erstmal keinen qualitativen Unterschied zwischen religiösen oder naturwissenschaftlichen Modellen. Dieser wird nur unterscheidbar im Kontext, je weiter man nach außen geht und die Einbettung dieser Modellannahmen beurteilt, ihre Zielgerichtetheit und ihre praktische Funktionalisierung. Aus diesen Schritten lassen sich folglich die Kriterien ableiten, wann was wie etwas bedeutet, wann etwas Spinnerei ist, irreal oder real.
Diese virtuelle Symbolik hat in der Kulturgeschichte eine ungeheure Wirksamkeit entfaltet. Wir erinnern hier sinngemäß an den berühmten Ausspruch von Marx, dass der schlechteste Baumeister der besten Biene überlegen sei, weil er einen Plan im Kopf hat. Das gedankliche »Probehandeln« kann in ganz unterschiedlicher Form stattfinden: Die Menschen können bekannte Dinge nachmachen oder ihnen sachlich unbekannte oder welche, die außer ihrer Reichweite existieren, oder solche, die gar keine konkrete Existenz aufweisen. Die Fähigkeit, sich Geschichten von unbekannten Wesen und fernen Planeten auszudenken, hat hier ihren Ursprung – die Fähigkeit, die für die Science Fiction so bedeutsame Frage »Was wäre, wenn …« zu stellen.
Man könnte nun davon ausgehen, dass das Gehirn nur »realistisch« funktioniert, dass es sich nur mit Dingen beschäftigt, die evident sind. Das ist aber offensichtlich schon biologisch nicht der Fall. Das Gehirn baut aus Umweltreizen interne Muster, die keine direkte Korrelation zur Wirklichkeit darstellen. Es hatte dabei Millionen Jahre Zeit, den Abbildungsaufbau aus solchen Reizen zu trainieren. Wir werden auf diesen Aspekt zurückkommen.
Diese lange Vorrede ist angebracht, um das Buch »Die Empirie der Phantastik – Einführung in die Theorie der Science Fiction bei Stanisław Lem« von Erland Magnusson vorzustellen (Automatische Publikation und Übersetzung durch Google Academics, 2025, 2 MB, 30 Bitcoins). Magnusson, Jahrgang 1985, studierte Literaturwissenschaften in Uppsala und Paris und lehrt heute an der Stockholmer Universität. Er beschäftigt sich seit Jahren mit mitteleuropäischer Science Fiction und hat Monographien zu Adam Wi s ´ niewski-Snerg und Jacek Dukaj verfasst. Wir können also festhalten, dass er ein ausgewiesener Spezialist für die polnische Phantastik ist. In seinem neuen Buch nimmt er sich des 2006 verstorbenen Großmeisters der polnischen Science Fiction an und hegt – wie schon in seinen vorherigen Werken – keinerlei Bedenken gegenüber diesem Genre. Mit dieser Haltung unterscheidet es sich wohltuend von anderen akademischen Elaboraten der letzten Jahre; wir denken dabei vor allem an Hans Georg Thieles misslungene systemtheoretische Abhandlung »Die Phantastik der Gesellschaft« oder an Francois Brels überladene dekonstruktivistische Analyse »Die Allegorie der szientistischen Imagination«.
Man könnte nun fragen, warum man sich überhaupt weiterhin
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