Das Science Fiction Jahr 2013 (German Edition)
tatsächliche und von uns und unseren Gewohnheiten abgewandte Zukunft. Stellen wir uns vor, ein Mensch um das Jahr 1, also knappe zwei Jahrtausende vor unserer Zeit, hätte diese Gabe besessen und seinen Brüdern und Schwestern von unserer Welt erzählt: Dass in jenen fernen Tagen nicht mehr die Sorge um Wasser und Brot in den Vordergrund unserer Gedanken drängen würde, nicht mehr die Frage, wer des Nachts unser Vieh vor den Wölfen hütet, sondern die Frage, ob und wie man Geld, will sagen: Zahlenkolonnen, die abstrakte Werthaltigkeiten symbolisieren, Symbolsätze also von einem unsichtbaren Schriftstück auf ein anderes unsichtbares Schriftstück übertragen soll; dass Tausende, ja Zehntausende – also: die Bevölkerung ganzer Landstriche – die Frage umtreibt, wie sie an die Berechtigung kommen können, zwei Gruppen Menschen beim Ballspiel beobachten zu dürfen; dass zukünftige Menschen in Gesellschaft anderer Menschen nicht mit den Menschen reden, in deren Gesellschaft sie sind, sondern mit solchen, die abwesend und fern sind und über winzige Instrumente Mitteilung darüber machen, wo sie sind.
Hätten die Zeitgenossen des Visionärs die Visionen verstanden?
Möglicherweise ja.
Möglicherweise aber auch nicht.
Dietmar Daths Roman ist keine Erzählung nach Maßgabe des Möglicherweise. Ein Roman, der uns ein Gefühl dafür vermittelt, dass Zukunft – also: die echte Zukunft – uns in ihren Kerngeschäften wie in den meisten ihrer Randgebiete unverständlich sein könnte.
Das ist durchaus nicht immer angenehm. Die volkstümliche Science Fiction vermittelt ihren Lesern ja sonst bevorzugt das Gefühl, wir, die Heutigen, seien unbegrenzt zukunftsfähig (will sagen: könnten bleiben, wie wir sind), könnten also noch mühelos mitmachen, selbst wenn die Klingonen kommen. Und die Klingonen müssten es denn auch schon sein oder andere Kreaturen mit futuristischen Äxten und geriffelten Nasenrücken, um das Land Übermorgen unter Spannung zu setzen.
Dietmar Daths Buch ist spannend, gewiss, kommt aber ohne Klingonen und andere Axtschwinger aus. Er ist actiongeladen, ja geradezu furios (wie einige seiner Hauptfiguren gleich zu Beginn und zu ihrem Leidwesen merken, als sie bereits nach einigen Seiten Abenteuer das Zeitliche segnen müssen), doch die Geschichte macht es einem nicht eben leicht zu verstehen, worum es eigentlich geht – gerade so, wie unser anachronistischer Freund im Jahre 1 Schwierigkeiten haben dürfte mit der Lektüre des Handelsblatts oder einer PC-Games -Fachpublikation unserer Tage.
Ganz grob sieht es so aus: In der entlegenen Zukunft des Romans haben die Menschen sich nicht nur im Sternenraum ausgebreitet und sind dabei auf allerlei eigenartige Aliens gestoßen, sondern sie haben sich auch physisch weiterentwickelt, sie haben ihre Gehirne und die daraus blühenden Bewusstseine gepimpt mit Quantencomputern (»Tlaloks«), die sie zur »twiSicht« befähigen, oder mit »sTlalkos«, die gleich neue Gehirne simulieren.
Zu den fremden Völkern, denen der optimierte Mensch auf seinen Sternenwegen begegnet, gehören die Nachkommen von Magnetovoren, die in den Peripherien von Sternen entstanden sind, gewitzte Virenkollektive, hochintelligente Hundeartige und entwicklungsgeschichtlich uralte Reptilien, die Menschen als »mehlwurmartige Kreaturen betrachten«.
Man bewegt sich via Ahtotüren durch den Kosmos, künstliche Abkürzungen durch die Raumzeit, die zu bauen es einer gewissen programmierbaren Materie bedarf.
Die interstellare Gesellschaft des Romans ist kunterbunt, spiegelt aber doch überraschenderweise alt-terranische Erfahrungswirklichkeit wieder: »Das Zerbrechen von Beziehungen der Vertrautheit und der Versuch, sie auf einer neuen Erfahrungshöhe wieder anzuknüpfen, Erschütterungen zivilisierter Gemeinwesen, Exil, Migration, Flucht und Vertreibung, Kommunikation und Missverständnis, das Aussenden und Empfangen von Botschaften: Das sind die Themen des Romans« – ein Themen-Potpourri, das sowohl den Herz-Schmerz-Schmöker wie die alltägliche Tagesschau von ARD und ZDF und noch das Oberseminar für Kommunikationsdesign umfasst.
Es menschelt nämlich, und es wird noch Staat gemacht auch kurz vor der alles umwälzenden Pulsarnacht. Der Zukunftsstaat heißt »die Vereinigten Linien« – eine lose Förderation, die lediglich durch einen Katalog demografischer Gesetze zusammengehalten wird. Diese Gesetze bestimmen die »Lebensdauer von mit Tlaloks ausgestatteten Personen relativ zur
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