Das sechste Herz
könnte in zehn Minuten da sein.«
Lara schloss ihren Mund wieder und nickte, ehe ihr einfiel, dass Mark sie nicht sehen konnte.
»Na klar. Bis gleich.« Sie legte auf.
Zwischen Jos Augenbrauen stand eine steile Falte. »Was soll das heißen: ›bis gleich‹?«
»Anscheinend ist Mark in Leipzig. Und er will herkommen.« Lara sah etwas in seinen Augen aufflackern und dachte gleichzeitig, dass sie Mark gar nicht gesagt hatte, dass Jo auch hier war.
42
Vanessa versuchte zu schlucken. Ihre Kehle fühlte sich wund an, der Hals brannte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie sich kaum bewegen konnte. Die angewinkelten Beine hafteten an den Fußgelenken wie aneinandergeklettet zusammen, die Arme waren nach hinten verdreht und an den Handgelenken fixiert. Schultern und Ellenbogen schmerzten von der unnatürlichen Position, die Hände drückten sich gegen die Lendenwirbelsäule. Die Unterlage war hart. Um sie herum herrschte Dunkelheit. Nun fielen ihr auch die Geräusche auf. Ein stetes Brummen, das sich von Zeit zu Zeit verstärkte und dann wieder schwächer wurde. Unter ihr rüttelte und holperte es, ab und an rollte ihr verschnürter Körper von links nach rechts.
Vanessa schloss kurz die Augen und riss sie dann gleich wieder weit auf in der Hoffnung, etwas erkennen zu können. Das Rütteln ließ nach, und das Brummen ging in ein gleichmäßiges Surren über. Jetzt wusste sie, wo sie sich befand – in einem Auto. Oder besser gesagt, im Kofferraum eines Autos. Verschnürt wie ein Weihnachtspaket lag sie auf dem harten Boden und wusste weder, wie sie hierhergekommen war, noch, wer sie gefesselt hatte. Ein schlechter Scherz der Jungs konnte das eigentlich schon nicht mehr sein, auch wenn sich ihre Clique erst gestern bei Lukas gemeinsam einen Horrorfilm angesehen hatte und die Jungs Witze darüber gemacht hatten, wie es wäre, selbst einmal ein Opfer zu fesseln und zum Spaß ein bisschen im Keller einzusperren. Bevorzugt natürlich eins der Mädchen. Tim hatte sich mit gekrümmten Armen und irrem Blick auf Leah gestürzt, die hatte spielerisch aufgekreischt, und das Ganze hatte in wildem Gelächter geendet. Vanessa grub die Zähne in die Zunge, bis es schmerzte. Nein, die Jungs machten gern Witze auf Kosten der Mädchen, aber das hier war nicht ihr Stil. Jemand anderes musste sie in diesen Kofferraum eingesperrt haben. Jemand, der wirklich böse war. Jetzt kam die Angst wie ein borstiges kleines Tier aus einer Ecke gekrochen und krabbelte mit kalten Pfoten über Vanessas Rücken zum Nacken hoch. Sie unterdrückte einen Schrei und ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Wenn sie in Panik geriet, wäre jede Möglichkeit, dem Grauen zu entkommen, dahin. Sie verscheuchte die Furcht in eine dunkle Ecke ihres Verstandes und bemühte sich nachzudenken, die Augen noch immer weit geöffnet in die Finsternis starrend.
Geknebelt war sie nicht. Während der Fahrt hätte vermutlich sowieso keiner ihr Schreien im Kofferraum gehört, aber gleichzeitig bedeutete das auch, dass sie an einen Ort fuhren, wo es niemanden gab, der ihr helfen konnte.
Nach etwa einer Minute – es konnten auch zwei oder drei gewesen sein, denn das Zeitgefühl war ihr abhandengekommen – erschien am äußersten rechten Rand ihres Sichtfeldes ein hellerer Streifen, der immer dann verschwand, wenn sie ihn genauer fixierte.
Wieder schlingerte das Fahrzeug um eine Kurve, und Vanessa nutzte den Schwung aus, um statt auf dem Rücken auf der Seite liegen zu bleiben. Der Schmerz in ihren Armen verschwand kurz, nur um gleich darauf als dumpfes Pochen wiederzukehren. Aber zumindest konnte sie jetzt die Finger bewegen, weil die Fesseln nur ihre Handgelenke umschnürten und die Last ihres Körpers sie nicht mehr behinderte. An der linken Wange fühlte sie kratzigen Stoff, eine Art Auslegeware. Ihre Augen, die jetzt nicht mehr nach oben blickten, konnten nun auch den hellen Strich deutlicher erkennen. Er zog sich im unteren Bereich von rechts nach links und flimmerte mal heller und dann wieder dunkler. Nach einiger Überlegung kam sie darauf – es musste sich um den Spalt zwischen Kofferraumklappe und Stoßstange handeln. Womöglich hatte ihr Entführer diese nicht richtig zugedrückt, und nun leuchtete das Licht der Straßenlampen herein. Wenn sie die Füße freibekäme, könnte sie auf dem Rücken liegend dagegentreten und so vielleicht die Klappe aufsprengen. Oder – wenn das nichts brachte, konnte sie warten, bis sie hielten und der Entführer den Kofferraum öffnete, um
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