Das sechste Herz
dann herauszuspringen und wegzulaufen. Variante eins gefiel ihr deutlich besser.
Vanessa kostete einen Moment lang den aufwallenden Stolz über ihre Kombinationsgabe aus und befahl ihrem Gehirn dann weiterzudenken. Zuerst musste sie die Hände freibekommen, dann konnte sie die Fesseln an ihren Füßen lösen und danach, wenn das Auto langsamer fuhr, gegen die Kofferraumklappe treten.
Beim Fahrzeug ihres Kidnappers handelte es sich wahrscheinlich um einen Kombi, weil der Lichtstreifen sonst weiter oben gewesen wäre. Das war gut für ihr Vorhaben, da bei Limousinen die Ladekante viel höher lag. Wenn sie Glück hatte, konnte sie sich einfach herausgleiten lassen. Vanessa lachte ein schnaubendes Lachen und hoffte, dass der Fahrer es nicht gehört hatte. Herausgleiten ! Während der Fahrt! Sie würde auf den harten Asphalt prallen und sich mit viel Glück ein paar Prellungen zuziehen. Mit etwas weniger Glück ein paar Knochenbrüche. Das Ganze barg viele Unwägbarkeiten, aber es war ihre einzige Chance. An ein Scheitern ihrer Mission wollte sie gar nicht erst denken. Und nun mach dich an die Arbeit, Mädchen. Demnächst ist Heiligabend, und den willst du doch zu Hause verbringen. Ob nun mit oder hoffentlich ohne ein paar Prellungen oder Knochenbrüche. Hauptsache frei und am Leben.
Hoffentlich fuhr der Typ noch ein wenig in der Gegend herum. Während ihre Finger sich Millimeter für Millimeter unter das Packband an ihren Handgelenken schoben und die – zum Glück frisch aufgeklebten, überlangen – Plastiknägel an den Rändern schabten und kratzten, versuchte Vanessa, sich zu erinnern, was sie als Letztes getan hatte, um so herauszufinden, wie sie in diesen Kofferraum gelangt sein mochte. Das Einzige jedoch, was ihr einfiel, war der Weihnachtsmarkt auf dem Augustusplatz. Leah und sie waren an den Buden entlanggeschlendert, hatten jeder einen Glühwein getrunken und eine Bratwurst gegessen und sich über die zahlreichen Stände mit Schnitzereien amüsiert. Als ihre Blase immer stärker drückte, hatte sie Leah schließlich an einem Zuckerwattestand stehen lassen und war zu den Toilettenhäuschen gegangen. Von da an ließ ihr Gedächtnis sie im Stich. Vanessa spürte, dass ihr Zeigefinger ein kleines Loch in das Klebeband gebohrt hatte, und rieb stärker.
Wenig später hatte sie es geschafft. Das Paketband an ihren Handgelenken zerriss mit einem Ratschen, und ihre Hände glitten auseinander. Der Entführer hatte sich beim Fesseln keine große Mühe gegeben.
Vanessa jubelte innerlich, während sie sich die Handgelenke rieb. Der Nagel am Zeigefinger war abgebrochen, aber sie hatte schließlich noch neun andere. Nun zu den Füßen. Das würde deutlich schneller gehen, jetzt, wo sie beide Hände frei hatte. Vorsichtig drehte sie die Arme und zog sie nach vorn. Die Schulter- und Ellenbogengelenke brannten noch von der Überdehnung, aber das würde vorbeigehen. Mit allen zehn Fingern bearbeitete sie die Fesseln an ihren Fußgelenken, krallte, rieb und grub die Fingernägel in die glatte Oberfläche der Klebestreifen. Es dauerte nicht lange, und auch die Füße waren frei. Ein Schluchzen entfuhr ihr, und sie schlug die Hand auf den Mund. Ihre Beine waren taub und ließen sich nicht ausstrecken. Die Zeit, bis ein immer stärker werdendes Kribbeln ankündigte, dass das Leben in ihre Füße zurückkehrte, erschien ihr wie eine Stunde. In Wirklichkeit hatte es sicher nicht einmal eine Minute gedauert. In der Zwischenzeit überlegte Vanessa, ob sie alles bedacht hatte. Vielleicht würde sie in diesem Kofferraum noch etwas finden, was sie als Waffe benutzen konnte, falls das mit dem Herausspringen und Wegrennen nicht funktionierte. Noch ehe der Gedanke zu Ende gedacht war, hatte sie sich schon auf die andere Seite gewälzt, und ihre Hände tasteten fieberhaft umher. Es musste ein großer Kombi sein, denn rings um sie herum war noch viel freier Raum. An der linken Seite stand der Belag etwas hoch, und ihre Finger schoben sich darunter und stießen auf kaltes Metall. Ein flacher Stab, etwa dreißig Zentimeter lang, vorn dicker, vielleicht ein Mutternschlüssel, sie hatte keine Ahnung. Auf jeden Fall würde die Stange eine super Waffe abgeben. Daneben lag etwas Kleines, Quadratisches, etwa so groß wie ein Stückchen Würfelzucker, an dem eine Schnur befestigt war.
Das Holpern unter ihr wurde langsamer. Ohne darüber nachzudenken, ergriff Vanessa das Ding und schob es in die hintere Tasche ihrer Jeans.
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